Seiten

Montag, 28. Mai 2018

PANTHEON - ein großartiges Jazzprojekt mit Bach

Patrick BebelaarCarlo Rizzo, Michel Godard, Herbert Joos und Vincent Klink (von links) im Ordenssaal


Am 27. Mai bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen: Vincent Klink (ganz rechts), Patrick Bebelaar (ganz links) und Freunde mit dem Jazz-Projekt PANTHEON. Das Ganze war eine fulminante musikalische Hommage an ein fast 2000 Jahre altes Bauwerk in Rom, in dem alle Göttinnen und Götter, alle Glaubensrichtungen und alle Philosophien ihren Platz haben. Eine Idee, der auch Johann Sebastian Bach mit seiner ökumenischen h-Moll-Messe verpflichtet ist, die deutlich auf die Versöhnung religiöser Gegensätze hinwirkt. Diese großartige Musik von Bach nahm der vielfach preisgekrönte Jazzpianist und Komponist Patrick Bebelaar als Inspirationsquelle für virtuose Improvisationen. Beteiligt außer dem bekannten Sternekoch, Autor und Bassflügelhornisten Vincent Klink waren lauter Stars der internationalen Jazz-Szene: Frank Kroll am Saxophon, Trompeten-Ikone Herbert Joos und Michel Godard mit Serpent, Bass-Tuba und E-Bass.
Für mich aber war der ungekrönte König dieses Abends der Italiener Carlo Rizzo, im Programm bescheiden angekündigt mit "Tamburin". In Wirklichkeit war das, was dieser Einhand-Schlagzeuger da ablieferte, weit mehr: seine hohe Schule eines oft belächelten Rhythmus-Instruments ist in der Lage, eine ganze (und souverän gehandhabte) Trommelbatterie zu ersetzen. Ein Solo-Percussionist der Sonderklasse. Ich habe schon viel gehört, aber so etwas noch nie. Sagenhaft! Das Publikum reagierte hingerissen.

Dabei waren alle Musiker herausragend - auch Klink, der sich demütig als "Amateur im Kreis großer Profis" bezeichnete, die er launig vorstellte. Aber um die solistischen Leistungen von sechs Jazzern angemessen zu würdigen, bin ich nicht fachkundig genug. Erlaubt sei daher ein wenig Allgemeines: Beobachtungen, Gefühle, Assoziationen, angeregt durch das Gehörte und Gesehene. 
Bachs h-Moll-Messe als musikalischer Steinbruch, das ist schon sehr anspruchsvoll und wäre respektlos, wären die Steinbrecher nicht solche elend guten Virtousen. Großartig, wie der Komponist und musikalische Leiter Petrick Bebelaar seine Freunde vom Steinway-Flügel aus - nicht dirigierte nein: anfeuerte, mit Einsätzen und Anregungen versah. Es gab ja schon Noten, aber eben auch großzügig bemessene Freiräume für jeden Solisten, also alle. Die Bühne im barocken Ordenssaal, der halt eine tolle Akustik hat, wirkte nicht im Mindesten unpassend für diesen Auftritt, zumal einige der Musiker auch eine durchaus barocke Körperlichkeit einbringen.
Immer wieder musste ich an den Ausbruch des Vulkans Kilauea auf Hawaii denken, der gerade mal wieder Schlagzeilen macht. Diese Musik hatte nämlich etwas Magmatisches: Sie konnte leise, zart, unterschwellig-unterirdisch dahinströmen und dann in plötzlichen Ausbrüchen ein ungeahnt feuriges Temperament auch in der Lautstärke offenbaren. Und wie Vincent Klink ankündigte: Das begann manchmal atonal, endete aber stets in großartigen Harmonien und in einer Klangfülle, die man bei der Besetzung mit einem Piano, vier Blechbläsern und einem Tamburin niemals erwartet hätte.
Orientalische Anklänge waren durchaus häufig, oft entwickelt aus einem schrillen Diskant. Kunstvolles Sabbern in die Trompete (unglaublich leichtfüßig mit den Fingern, dieser Joos!), ein geradezu tektonischer Bass (Godard) konnte auch Didgeridoo und japanische Tempelmusik auf der Tuba, am Saxophon ein poetischer Schlangenbeschwörer (Kroll). Direkt unterstützt durch oder im kontrastreichen Dialog damit: Klinks Bassflügelhorn. Rizzos Tamburin (er hatte mehrere im Einsatz, und das Kleinste beeindruckte mit einem enormen elektronischen Innenleben) goes Rock & Blues. Beim "Gloria" sang er soulig dazu wie ein Muezzim vom Mississippi. Traumpfad-Musik: ein virtuoses Gespinst der Klänge, Stile und Formen. Ich glaube kaum, dass da auch nur eine einzige Musiktradition dieser Welt ungeplündert blieb, alle miteinander aufs Schönste verschmolzen.
Als besonderes Bonbon gab es anschließend einen "Ausklang": Festspielintendant Thomas Wördehoff stellt ein paar launige Fragen zur Entstehung dieses Projekts, die Patrick Bebelaar ebenso launig wie akkurat beantwortete, und dann ging´s zu einem gemütlichen Teil hinunter ins kühle Erdgeschoss an die Bar. Viele zog es auch zur Autogrammstunde auf die herrlich frische Schlossterrasse. Und nach gebührender Abkühlung waren tatsächlich alle Musiker da und so locker und gut drauf, dass meine Frau Grit Finndorf-Puhl das noch in einer schönen Reihe von Porträts festhalten konnte. Hier eine kleine Galerie des lauen Maienabends:

Vincent Klink

Carlo Rizzo
Patrick Bebelaar
Herbert Joos
Frank Kroll






Michel Godard


Dienstag, 22. Mai 2018

Solitäre eines poetischen Einzlgängers

Klaus F. Schneider: "pret-a-porter", Gedichte. Edition Peter Schlack, Epplestraße 69,70597 Stuttgart, 30 S., 8 €

Gleich vorweg eine Entschuldigung: Ich bin zu blöd für das allseits beliebte Einfügen von Sonderzeichen aus anderen Sprachen, daher ist der französische (mir auf Anhieb unverständliche) Titel hier ohne diese Akzente geblieben. Übersetzt, so lerne ich bei Google, hat der Ausdruck "bereit zum Tragen" oder "tragfertig" auch die Bedeutung "Von der Stange" oder "nicht maßgeschneidert" und stammt aus der Mode. Das kann aber nur ironisch gebrochen stimmen, denn von der Stange ist hier gar nichts: weder die Büchlein selber - 200 signierte und nummerierte Exemplare der nahezu unverkäuflichen Gattung Lyrik - noch der Inhalt: alles von Hand gemacht und sehr ungewöhnlich. Und die Grau in Grau gehaltene graphische Gestaltung des Umschlags kommt beim Abfotografieren ohne spezielle Hilfsmittel ebenfalls schlecht weg. Auch das könnte eine Metapher sein für die meistens schwere Auffindbarkeit so einer Dichtung im digitalen, optisch dominierten Marktgeschrei. Trotzdem möchte ich hier dieses schmales Büchlein sehr empfehlen. Es sind 15 Gedichte eines Lyrikers, der es nicht leicht hat und die es vielleicht gerade darum in sich haben.
Schon mit der ersten Zeile fällt das lyrische Ich mit der Tür ins Kartenhaus der Naturpoesie: "ich war heut im wald / und hab kein reh gesehen". Vom "einkaufen gehen" ist hier nicht gerade im hohen Ton die Rede, vielmehr vom "anstimmen der laubbläser" und anderen Zumutungen. Trotzdem outet sich Schneider auch gleich als hintersinniger Wortschöpfer, der "lebkuchenherzkatheter" legt.
Diesem Autor fallen Wörter vor die Füße wie Äpfel, aus denen ein Wurm kommt, wenn man unachtsam hineinbeißt. Wortspielereien betreibt er mit Hingabe, aber kaum je als Selbstzweck, sondern zur doppelbödigen Entlarvung einer Welt, in der Dinge mit dem Dichter gleichberechtigt das Wort ergreifen. Da unterhalten sich klappernde Fensterläden, oder "zeichensysteme mit grundlegend romantischer konnotation" bilden eine Art transzendentales Grammatikmodell mit umgehend angezweifelter Funktionalität: "wir befinden uns auf einer lichtung / in einem stillgelegten wald umgeben von dingen, / deren ausgemachte bestimmung es war, / sich uns als natur zu offenbaren".
Kommunikation zeigt sich hier als Problem zwischen Synapsen und Algorythmen:
"beim versuch daraus die wurzel zu ziehen
scheiterte ich an den endlosen stellen
hinter dem komma".
Arbeitswelt, Sozialpolitik und Sprache offenbaren sich in diesen Versen so ganz nebenbei als Quadratur des Kreises, bitterböse und luzide analysiert. Lebensraum, so kalt wie das All. "ach erde du alte", der Vers von Johannes Poethen fällt mir da ein. Aber vielleicht würden beide Dichter solche Vergleiche gar nicht wollen. Die eigene Bildungsbiographie als Lehrer, die Sozialisierung im Umfeld der Rumäniendeutschen von Klausenburg, im Nomadentum erst des Exils und dann des Unverstandenseins und Unverständnisses, "ständig in gefahr in gewissheiten abzustürzen", meint auch sich selbst. Die prekäre Lage der Poesie und der Symbiose mit einer Leserschaft und einem Buchmarkt, der so nicht mehr ist, zeigt sich im widersprüchlichen Bild:
"wir stand für eine gedankenbewegte wortart,
die alle insoweit einbezog, dass jeder
sich davon ausgenommen fühlen konnte".
Gedichte sind ja seit jeher auch Experiment, Spiel mit Gedanken über das Ich, die Umwelt, die Zustände der Gesellschaft - ein Stück Selbstvergewisserung durch Kunst und Reflexion. Trappatoni-Deutsch als Zitat kommt da ebenso vor wie das Klischee der eigenen Gattung: "hallo, hört mich jemand? / hier spricht das lyrische ich". Aber das macht Schneider sehr selbstironisch und gar nicht wehleidig. Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Dass sich der ganze Guttenberg´sche Setzkasten gelegentlich selbständig macht, hat unzählige komische Situationen zur Folge.
Dass man die geradezu obszöne Explosion wieder erwachenden Lebens an einem schönen Frühlingstag durch die Sprache des Hardcore-Pornos bricht, mag nicht jedermanns Ding sein; treffend und originell ist es allemal: "die natur wichst sich einen ab und du bekommst / den pantheistischen cumshot voll in die Fresse." Ich musste erst nachschlagen, aber das Bild sitzt - vor allem in Zeiten des Missbrauchs von Natur durch Tourismus und Werbung. Da ist es nur folgerichtig, solche Ambivalenzgefühle ins Autobiographische zu übertragen, obwohl Vorsicht auch hier geboten bleibt: Das lyrische Ich lügt gern:
"beim schreiben wie beim vögeln
ist mir die lust vergangen. immer etwas beweisen zu müssen.
nur noch programme die insgeheim ablaufen und erwartungen
die man sich gehalten sieht zu erfüllen oder getrieben
ihnen zuwider zu laufen. manierismen & regelwerk."
Es ist das Spiel mit Sprache, Welt, Denken und Nach-Denken, wodurch diese Gedichte auch eine ernsthafte philosophische Dimension bekommen - jenseits jeder "insgeheimen eigentlichkeit". Die scheinheilig-amüsante Fragen an den Leser "wie hältst du es mit dem diskurs?" mündet in eine aberwitzige Behindertenolympiade der Schreibtherapieteilnehmer und gastrosophischen-Workshops: Köstlich, bitterböse, funkelnd vor Intelligenz und Bosheit einem Verwertungsapparat gegenüber, der von Beuys ("Jeder ist ein Künstler") direkt zu den Daniel Kübelböcks der Fernsehunterhaltung und ihren literarischen Ablegern führt. Geradezu eine Charta der zeitgenössischen Lyrik, X-Mal in sich selbst gebrochen, zerbrochen und gespiegelt, ist der Text "dieses gedicht stellt sich zu beginn die Frage". Für mich ist er sozusagen eine Poetologie des Absurden. Zitat:
"dieses gedicht lacht sich in die geballte faust.
es ist nackt. so fährt es in hoheitliche paraden."
Ich genieße diese Parade der Wortschöpfungen wie "plastiklackstelzen", "mastwachtel", "tussnelkengilde", "panpapappelpogo" und so fort. 15 Texte auf 30 Seiten mit Fadenheftung. Diese Poesie erzeugt einen Rausch, und ich weiß nicht, ob ich dazu kiffen möchte oder lieber nicht. Klaus F. Schneider wurde 1958 im rumänischen Mediasch geboren, hat in Klausenburg/Cluj studiert, war Lehrer, schrieb Gedichte und Rezensionen, das Übliche halt bis zur Ausreise 1987. Hierhat er als Bibliothekar gearbeitet und war lange krank, blieb anfällig. Er  bekam er 1991 ein Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg und 1999 ein Stipendium des Landes, 2003 den DAHON-Förder-Award für Europa. Nie gehört. Wieso Förder-Award, dieser denglische Begriffshybrid? Ich wünschte, Schneider bekäme endlich mal einen richtig fetten Literaturpreis.





Montag, 21. Mai 2018

Ein neuer Star am Cellistenhimmel: Kian Soltani

Triumph: Kian Soltani und das SWR Symphonieorchester Stuttgart

Der österreichische Cellist iranischer Herkunft mit dem italienisch klingenden Namen Kian Soltani spielte am Donnerstag und Freitag mit dem SWR Symphonieorchester Stuttgart in der Liederhalle das Konzert für Violoncello und Orchester a-Moll von Robert Schumann. Ok, der Mann hat in Wien studiert und ist 1992 in Graz geboren, aber seine Kunst stammt aus beiden Kulturen und ist eine Offenbarung! Der Dirigent Wolfgang Eschenbach war selbst völlig von den Socken, mir zog´s die Schuhe aus, wir klatschten uns barfuß heiser. Wenn Ihr versteht... Schon der Auftakt des Abends mit der Konzertouvertüre "Karneval" von Antonín Dvorák war großartig. 
Kian Soltani: Charmant, charmant!

Das Publikum stand aber erst richtig Kopf nach Kians Interpretation von Schumann. Und dann spielte der Solist als Zugabe eine fulminanten Eigenkomposition mit dem Titel "Persischer Feuertanz" - modern, zeitgenössisch, aber keineswegs atonal oder sonstwie eine Beleidigung für die Ohren, sondern voller Herzblut, persischer Volksmusik, Rhythmus und Drama: wunderbar! 
Das abschließende Konzert für Orchester von Béla Bartók, uraufgeführt 1944 in Boston, war ein Stück Völkerversöhnung aus ganz anderem Blickwinkel. Hier sind alle Orchestermusiker als Virtuosen gefragt. Auch so kann zeitgenössische Musik ohne erhobenen Zeigefinger überzeugen.
Noch zu Soltani: Ist der Mann nicht ein Charmebolzen erster Klasse am Bande? Voriges Jahr erhielt er den Leonard Bernstein Preis in Kiel, aber das war weder die erste noch die letzte Auszeichnung dieses Musikers. Er ist nicht nur ein Ausnahmetalent, sondern auch ein genetische prädisponierter Vollprofi mit unglaublichem Gespür für den richtigen Gefühlsausdruck, den Dialog mit dem Orchester, für den Augenblick. Sein Spiel ist von einer bemerkenswerten Disziplin, Konzentration und Virtousität, klebt aber nie am Notenblatt, sondern nutzt spielerisch und einfallsreich die Freiräume der Kadenzen. Bravissimo - mehr davon!

Donnerstag, 17. Mai 2018

Brief an einen Freund - aus aktuellem Anlass

Lieber Wolfgang,

vielen Dank für Deine Info zu einer Idee zu einer digitalen Spielwiese für Intellektuelle und die Blumen von wegen "mit allen Wassern gewaschener Digitalhase". Aber: Mir hat da gerade ein neues Gesetz zur EU-Datenschutzverordnung ins Waschwasser gepisst. Und fleißige Mitpisser bzw. semiprofessionelle Urheber unnötiger Schwierigkeiten verbreiten auch in Fachkreisen (noch) permanent Unsinn und Panik. Danach müsste z.B. jede Mailingliste trotz Einwilligung der Empfänger illegal sein, wenn deren Email-Adressen im CC stehen, also für alle Empfänger erkennbar sind. Wieso diese Funktion dann überhaupt erlaubt ist, müsste der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung mal erklären, aber der ist wohl gerade mit Moskauer Trollen beschäftigt. Ich habe in meinem Blog und auf Facebook vorhergesagt, dass bei derart unsinnigen, ja widersinnigen Interpretationen des Gesetzes durch bösartige und grenzdebile Deppen das gesamte Vereins- und Gemeindeleben sowie alle ehrenamtlichen Tätigkeiten in Deutschland zum Erliegen kommen müssten - ein Selbstmord in Sachen Kommunikation einzig aus Angst vor kriminellen Abmahn-Juristen. Mein Kirchenchor und meine Lungensportgruppe dürften keine WhatsApp-Gruppen mehr bilden und würden in die Steinzeit des vordigitalen Kommunikationszeitalters zurückgebombt. Absurd! Wo sind unsere Politiker und Verbände, die dafür zu sorgen und unmissverständlich klarzustellen hätten, dass dieses Szenario auch für freischaffende Künstler nicht gelten kann? Aber bis ich eine funktionierende Kläranlage für diese ganze pseudo-juristische Info-Gülle habe, wird es noch dauern. Daher momentan keine Ausweitung meiner digitalen Aktivitäten. (Dieser Text gehört urheberrechtlich mir und ist zur viralen Verbreitung freigegeben!).
Herzliche Grüße,

Sonntag, 6. Mai 2018

Charmante Planerin und kluge Rechnerin

Kein Kind von Schüchternheit: die Neue im Team

Katrin Zagrosek wird neue Intendantin der Stuttgarter Bachakademie


Die internationale Bachakademie Stuttgart wird weiblicher: Am Freitag haben Akademieleiter Hans-Christoph Rademann (rechts) und Chefdramaturg Henning Bey (links) im Theaterhaus die neue geschäftsführende Intendantin Katrin Zagrosek vorgestellt. Die Neue (geboren 1975) kommt aus Hannover, hat in Lüneburg und an der Humboldt-Universität Berlin (Ost) Musik- und Kulturwissenschaften studiert, hat vor allem schon zahlreiche Festivals organisiert bzw. geleitet, etwa "Wien modern" und Hamburger Obertöne". Seit 2012 ist sie Intendantin der Niedersächsischen Musiktage. Die Frau ist also erstens vom Fach und zweitens bestens vernetzt. Da haben sich die Herren in Stuttgart als mutig erwiesen und eine Frau ins Team geholt, die mehr ist als ein Controller, die Sponsoren gewinnen und halten kann und für die Sache brennt. Chapeau und Grüß Gott, Frau Zagrosek!
Zu erwarten ist also nicht nur eine Charme-Offensive, sondern auch eine Ermöglicherin. Die Bachakademide hat in den letzten Jahren beim Programm viel Erneuerung angekurbelt, quasi ein paar Pfund Schmierseife in die Rutsche gekippt, um das Tempo zu erhöhen. Die Frau im Team bringt nun offensichtlich Steuerqualitäten für diese rasante Fahrt mit. Und sie wird eigene Ideen haben.

Freitag, 4. Mai 2018

Ungewissheit als Programm


 Das Eröffnungskonzert der Ludwigsburger Schlossfestspiele


Großer Aufmarsch gestern im Forum am Schlosspark Ludwigsburg - ich mit frisch durch Fritten-Mayonnaise bekleckerter Krawatte mittendrin, weil ich mich nicht hatte beherrschen können und prompt einem Anfall von Fast-Food-Sucht Tribut zollen musste: Chefdirigent Pietari Inkinen wagt sich mit dem Orchester an die unvollendete 9. Sinfonie von Anton Bruckner, die der gealterte Komponist seinen "Abschied vom Leben" genannt hat. Da kann ich mir wahrhaftig Schlimmeres vorstellen. Doch es war ja nur der Anfang des Abschieds von Thomas Wördehoff als Intendant. Zuvor gab´s Leichteres: Eine Ouvertüre von Olivier Messiaen, eine Rede des Schnapsbrenners, Kurators und Unternehmers Christoph Keller" über Ungewissheit als Lebensprinzip und das Klavierkonzert G-Dur von Maurice Ravel mit dem französischen Pianisten Bertrand Chamayou. Länglich das Ganze. Daher kurz gesagt: Schee war´s, trotz einiger Fragezeichen.
Zur etwas längeren Version gehört etwas mehr Ungewissheit: über eine Konzertouvertüre von Olivier Messiaen etwa, die nicht im Programm stand und wohl ebenso kurz entschlossen wie unbegründet ins Programm geschubst wurde; über den Sinn der "Fest"rede von einem, der nicht einmal weiß, warum er einen Job hinschmeißt, der gerade prima lief, und noch nicht weiß, was er als nächstes machen soll (hängt er jetzt ein Schild mit der Aufschrift "Wegen Reichtums geschlossen" an seine Bürotür oder wandert aus, um irgendwo Schafe zu züchten?); über ein Hineinstolpern des Intendanten ins Festival ohne die übliche Begrüßung, die er nämlich einem unerfahrenen Fremden überließ, das seltsame zwischenzeitliche Verschwinden dieses Redners und des Solisten, der auch weder Blümchen noch Küsschen bekam, ts ts, in der Pause.
Man konnte Ravels Klavierkonzert anhören, dass es 1928 nach einer viermonatigen Tounee des Komponisten durch die USA entstand, wo ihn neben der Musik von George Gershwin auch Blues und Jazz beeindruckten. Im ersten Satz (allegramente) gibt es tatsächlich Anklänge an die "Rhapsody in Blue". Der zweite Satz sammelt folkloristische Inspirationen ein und spielt trillernd mit Mozart-Melodieteilen. Der dritte Satz (presto) driftet temporeich und gezielt ins Improvosieren ab. Lässig, aber auch nicht schwierig und angenehm heiter wie bei einem Barpianisten.
Die Sinfonie Nr. 9 von Anton Bruckner beginnt als wuchtiger Ausklang des 19. Jahrhunderts und endet mit feinen "Antennen ins 20. Jahrhundert", wie Nikolaus Harnoncourt das einmnal nannte. Im ersten und zweiten Satz denkt man an Verdi, an Wagner und schwere Choräle. Die klingen ebenso durch wie Volkslied und Marschmusik. Es war eine düstere Zeit, und düster ist auch über weite Strecken die Stimmung in diesem Werk. Umso schöner und leuchtender die Auflösung mancher schweren, dissonanten Akkorde in ungewohnten, neuen Harmonien. Es sollte für den Komponisten die Summe seines Schaffens sein, sein Opus magnum, an dem er von 1887 neun Jahre lang bis zu seinem Tod gearbeitet hat, und er überließ dabei nichts dem Zufall. Nur den Verfall seiner Kräfte hatte er nicht auf der Rechnung, der ließ sich nicht aufhalten. 
Das wird und muss jeder Dirigent anders machen, und deshalb ist kein Vergleich mit der Interpretation erlaubt, die Theodor Currentzis Ende Januar mit dem SWR Symphonieorchester Stuttgart aufgeführt hat. Schon allein der Saal und das Orchester erzwingen völlig andere Maßstäbe, ganz zu schweigen von der Persönlichkeit des Dirigenten. Doch eben diese Vielfalt war vorhersehbar und alles anderes als ungewiss. Wie gesagt: Shee war´s.