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Sonntag, 9. April 2017

Roman über den Schiffbruch der Zivilisation

Franzobel: Das Floß der Medusa. Roman, Paul Zsolnay Verlag Wien, 589 Seiten, 26 €


Der Franzobel alias Franz Stefan Griebl hat noch nie appetitliche Büchlein geschrieben. Er ist bekann für seine derben Grotesken und Trash-Krimis. Das hier aber hat historische Ausmaße: Die Geschichte von 15 der 147 ausgesetzten Floßpassagiere der historischen französischen Fregatte Medusa (nomen est omen, wieder mal!), die 1816 vor der Küste des Senegal strandete, ist nichts für Freunde der gepflegten Salonlektüre und nichts zum Goutieren. Da ist von Kannibalismus die Rede, aber das dient nur als historisierende Folie für eine ERZÄHLTE Abrechnung mit der ganzen (zumindest der ganzen westlichen) Zivilisation. Nicht, dass wie die noch echt nötig gehabt hätten nach den Balkankriegen des feinen Herrn Milosevic. Die haben uns wohl daran erinnert, wie dünn der Putz unserer Zivilisation ist und wie schnell der bröckelt, wenn es Druck gibt. Doch so grauenvoll gut hat das Grauen wohl noch kaum einer in die Form eines Romans gepresst und so fein gebacken: Da gibt es Szenen des Kannibalismus von Menschen aus gutem Hause, die übereinander herfallen vor Hunger und Pisse trinken vor Durst, die schlimmer als Tiere miteinander umgehen und sämtliche schönen Märchen des Humanismus Lügen strafen. Da ist der Mensch des Menschen Wolf, da gibt es Brutalitäten und Hass und Verachtung gratis oben drauf. Da gibt es aber auch jede Menge Parallelen zu den Verhältnissen von heute, die können nämlich jede Sauerei durch technische Fortschritte um ein paar Potenzen noch steigern. Da gibt es geschmackliche und literarische Grausamkeiten im Dutzend billiger. Das alles wäre nicht zu ertragen ohne Franzobels rabenschwarzen Humor und die Gewissenheit: Der Mann hat Recht mit seinem Zorn auf die Gesellschaft. Preisverdächtig!

Mittwoch, 5. April 2017

"Klassik-Rebell" aus Novosibirsk und Perm


Teodor Currentzis wird Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters

Mit Beginn der Spielzeit 2018/19 wird Teodor Currentzis (45) der erste Chefdirigent des neuen SWR Symphonieorchesters. Der Grieche ist 45 Jahre alt, war Chef des Opernhauses von Novosibirsk und ist es noch in Perm. Er zählt zu den vielseitigsten und interessantesten Dirigenten seiner Generation, dessen Repertoire mit Werken von der Barockzeit bis zur Avantgarde sämtliche Epochen umfasst. Teodor Currentzis ist vor allem für seine intensive Probenarbeit bekannt und dieses Jahr bei den Salzburger Festspielen sehr präsent; für seine richtungsweisenden Interpretationen wurde er vielfach von der Fachwelt ausgezeichnet. Sein Meisterstück hat er wohl mit der Gründung des Ensembles "Musica Aeterna" in Novosibirsk abgeliefert: Ein Chor und ein Orchester der Alten Musik, das international zahlreiche Preise abräumt. Bereits im kommenden Januar 2018 wird der designierte Chefdirigent mit Bruckners 9. Sinfonie als Gast zu erleben sein. Ich denke, da steigen meine Abo-Aktien gewaltig.