Seiten

Donnerstag, 10. September 2015

Musikfest Stuttgart: "Wo bleibt die Barmherzigkeit?"


"Sichten auf Bach" in der Stuttgarter Stiftskirche
"Sichten auf Bach" heißen Konzerte in der gotischen Stiftskirche Stuttgart, mit denen die Internationale Bachakademie beim  Musikfest dem Publikum nicht nur herrliche Musik, sondern jeweils auch eine ganz andere Sicht auf den großen Komponisten bietet.
Diesmal war es die heimische Sicht, dargestellt von der Gächiner Kantorei, dem Bach-Collegium Stuttgart und Solisten unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann. Bedenkt man, dass diese Programme viele Monate vorher erstellt werden, dann hatte der Dirigent für den 10. September eine wahrhaft prophetische Ader, und so erhielt dieses Konzert eine höchst aktuelle Komponente. Angesichts der Flüchtlingsdramen, die Europa derzeit erschüttern, war die zentrale Kantate "Ihr, die ihr euch von Christo nennet" (BWV 164) eindringlicher als jede Predigt in ihrer Mahnung an christliches Selbstverständnis und Gewissen. Vor allem an die Verweigerer europäischer Solidarität musste denken, wer die Verse hörte:

"Ihr, die ihr euch von Christo nennet,
wo bleiben die Barmherzigkeit,
daran man Christi Glieder erkennt?
Sie ist von euch, ach, allzu weit.
Die Herzen sollten liebreich sein,
so sind sie härter als Stein".

Jeder fünfte Deutsche hat sich inzwischen in der Flüchtlingshilfe aktiv engagiert - auch in Stuttgart. Und so ist die Erinnerung daran, was denn ein "christliches Abendland" sei, wohl in erster Linie bekennenden Christen wie dem Bischof von Szeged, Viktor Orban oder diversen CSU-Granden auf den ins Gewissen geschrieben, die schon mal von einer "Invasion" des christlichen Abendlandes reden. Alle wirklich gläubigen Menschen aber richten wohl in diesen Tagen die Bitte aus dem Text dieser Kantate nach Breitkopf & Härtel, Nr. 4774, Wiesbaden 1969 an ihren Gott:

"Dass ich die wahre Christenliebe,
mein Heiland, täglich übe,
dass meines Nächsten Wehe,
er sei auch, wer er ist,
Freund oder Feind, Heid oder Christ,
mir als mein eignes Leid zu Herzen allzeit gehe!"

Ich zitiere sonst nicht aus alten Kantaten, aber diesmal muss es sein. Bach zeigt uns, wie wenig neu die Lage und die Reaktion der Menschen auf derlei ist. Musikalisch, soll aber wenigstens erwähnt sein, war auch dieses Konzert wieder ein besonderes Juwel. Musikhistorisch knifflig, dass da eine Motette und zwei Kantaten in einem Konzert zu hören waren, die nicht im gleichen Kammerton geschrieben wurden. Ohne in Einzelheiten zu gehen: Die Motette "Der Gerechte kommt um" zu Beginn, kurz, aber besonders anrührend, war eine echte Entdeckung, die noch gar keine Nummer im Bach-Werkeverezeichnis hat.
In der zentralen Kantate brachte Rademann (auf meinem Foto leider, wie bei Digenten üblich, mit dem Rücken zum Publikum und den Blick auf die Musiker gerichtet) die großartigen Solisten ins Spiel: Carolyn Sampson (Sopran), den glockenhellen Countertenor Terry Wey, den starken Tenjor Sebastian Kohlhepp und den präzise artikulierenden Bass Jochen Kupfer. Alle sangen sicher in Höhen und Tiefen, ausdrucksstark und elastisch.
Vor allem in der abschließenden Kantate "Höchsterwünschtes Freudenfest" (BWV 194), komponiert anlässlich der Einweihung einer Orgel, die einen halben Ton anders gestimmt war als Bachs damaliges Heimatinstrument, enthielt große musikalische Schwierigkeiten. Um die Anforderungen an die Sänger erträglich zu gestalten, transponierte Rademann die Partitur um eine kleine Terz tiefer. Das jedoch war wiederum für die Instrumentalisten eine spezielle Herausforderung. Denn es sollte ja alles noch so klingen wie bei Bach. Weil aber keiner der Anwesenden Bach noch im Original gehört hat, hat auch niemand gemerkt, falls denn je etwas schief rüberkam. Geklungen hat´s jedenfalls wunderbar. Noch mehr lang anhaltender Applaus wäre in einem Gotteshaus gar nicht mehr würdig gewesen. Johann Sebastian Bach kann den Menschen auch nach 300 Jahren ans Herz greifen. Besser kann man eine Mittagspause nicht verbringen.




Keine Kommentare: