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Samstag, 4. Juli 2015

Herbert Blomstedt entfesselt das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart

Draußen 36 Grad Celsius, drinnen im Saal zugunsten von Musikern und Instrumenten ein eher gemäßigtes Klima. Trotzdem bewegte sich der Gastdirigent Herbert Blomstedt aus den USA mit präziser Sparsamkeit. Der Mann ist fast 88 Jahre alt, aber man sieht dem jungenhaft wirkenden Sohn schwedischer Eltern nur die Freude am Musizieren an. Mehr als einmal zaubert die Reaktion des Orchesters auf seine Gesten ein feines Lächeln ins Gesicht: Geradezu entrückt und doch ganz und gar gegenwärtig. Blomstedt, so liest man im Programmheft, hat für die Gesamteinspielung von Anton Bruckners Sinfonien mit dem Leipziger Gewandhausorchester 2013 den International Classical Music Award erhalten. Die 9. leitete er an diesem Abend aus dem Kopf, und das Orchester wuchs dabei über sich hinaus.
Sebastian Manz, der junge Solo-Klarinettist des RSO, machte den furiosen Auftakt mit dem farbigen Klarinettenkonzert von Carl Nielson und einer Virtuosität, die das Publikum schon vor der Pause begeisterte. Mit unglaublicher Luft und präziser Technisk beherrscht Manz sein Instrument und kommt gegen ein ganzes Orchester in voller Besetzung scheinbar mühelos an. Verspielt und verschmitzt interpretiert er auch eine kleine, aber feine Zugabe von Strawinsky aus den "Drei Stücken für Klarinette solo", die an "Peter und der Wolf" erinnern.
Doch der Höhepunkt des Abends war Bruckner, dessen unvollendete letzte Sinfonie sich wirklich anhörte wie "für den lieben Gott geschrieben" (so die mündliche Überlieferung): voller Sehnsucht, volkslied-inspiriert, wuchtig und kontrastreich. Die orchestrale Kraft dieser Klangorgie entfaltet sich in Wiederholungen und schnellen Streicher-Rhythmen oder starken Bläsereinsätzen beim Tutti. Und sie läuft aus wie die Lebenskraft des Komponisten in einem sanften Adagio, das den Atem anhält. Nach diesem Abschied herrschte über zehn Sekunden lang absolute Stille im Saal, bevor tosender Beifall losbrach. Bravissimo!



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