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Samstag, 13. Dezember 2014

Aus Opfern mach Täter: Türkische Verhältnisse bei der Justiz zu Stuttgart 21

Ein völlig unangemessener Vergleich


Nach dem Wasserwerferprozess gegen zwei Polizeibeamte, der wegen „geringer Schuld“ eingestellt wurde, sollen jetzt vier der fünf Nebenkläger ein Drittel ihrer Anwaltskosten selbst bezahlen. Eine Nebenklägerin soll sogar die gesamten Kosten selbst tragen.

So könnte das Gericht nachträglich und ohne Prozess aus Opfern Täter machen, denn nach Angaben der Anwälte geht es vermutlich um mehrere tausend Euro. Außerdem gibt es gegen so eine Kostenentscheidung kein Rechtsmittel mehr. Das liefe im Ergebnis auf eine verdeckte Geldstrafe hinaus. Zum Vergleich: die Angeklagten haben einen Strafbefehl über je 3000 EURO erhalten. Wie die Anwältig Ursula Röder sagte, muss eigentlich der Angeklagte die Kosten der Nebenklage übernehmen, wenn ein Verfahren nach Paragraf 153 a eingestellt wird. Nach einer so genannten Billigkeitsprüfung hat das Gericht jedoch anders entschieden.
Wie das Stuttgarter Landgericht mitteilte, habe die „Billigkeitsprüfung“ ergeben, dass die Nebenkläger, die am „schwarzen Donnerstag“ vom Strahl eines Wasserwerfers getroffen wurden, eine gewisse Mitschuld am Geschehen trügen. Begründung: die verletzten Demonstranten hätten der Aufforderung der Polizei, den Park zu verlassen, nicht Folge geleistet. Diese – gelinde gesagt, seltsame – Umwertung von Schuld und Unschuld hat Methode, und die kann man vor allem in der russischen und der türkischen Justiz seit längerem studieren. Bei Prozessen mit politischem Hintergrund geht dort die Justiz ganz ähnlich gegen missliebige Regimekritiker, die sich anders nicht disziplinieren lassen.
Ein Beispiel, das durch die Weltpresse ging, und das viele Stuttgarter vielleicht vergessen haben: Die Staatsanwaltschaft Istanbul erhob am 3. Februar 1995 Anklage wegen Volksverhetzung und Landfriedenspruch gegen den Schriftsteller Aziz Nesin – ein Vorwurf, auf den die Todesstrafe steht. Aziz Nesin (20.12. 1915 – 06.07. 1995) war eine Art türkischer Ephraim Kishon, ein bekennender Atheist und Satiriker, der Millionen zum Lachen brachte – auch gern über rückständige muslimische Fundamentalisten. Was war geschehen?
Am 2. Juli 1993 hatte Nesin auf einem Kongress alevitischer Musiker, Tänzer und Dichter im anatolischen Sivas gefordert, Muslime müssten den Roman „Die satanischen Verse“ von Salman Rushdie erst einmal übersetzen und lesen, bevor sie darüber diskutieren und ihn verbieten. In Sivas steht ein Denkmal des avetitischen Dichters Pir Sultan Abdal, der für seine Glaubensbrüder ein Freiheitsheld ist, weil er wegen seiner Gedichte und Lieder 1550 hingerichtet wurde. Nach dem Freitagsgebet in Sivas gingen 20 000 aufgehetzte sunnitische Gläubige auf die Straße und demolierten zuerst das Pir-Sultan-Abdal-Denkmal. Dann zündeten sie das Tagungshotel an, um „die ganze ketzerische Brut auszuräuchern“ allen voran Aziz Nesin. Der jedoch überlebte leicht verletzt, obwohl in Feuerwehrleute vor laufenden Fernsehkameras noch von der Drehleiter stürzten, über die sich der alte Mann retten konnte. Für 37 andere Bewohner des Hotels, das aus Holz gebaut war und wie Zunder brannte, kam jede Hilfe zu spät.
Die Ermittlungen gegen die wahren Urheber des blutigen sunnitischen Pogroms an liberalen alevitischen Muslimen wurden eingestellt. Dafür aber nahm die Staatsanwaltschaft Istanbul im Sommer 1994 den Dichter Aziz Nesin ins Visier und beschuldigte ihn, die Gewaltorgie von Sivas verursacht zu haben. Ein missliebiges Opfer sollte zum Täter gemacht werden, wie schon so oft und bis heute immer wieder. Als ich damals Aziz Nesin zu seinem letzten großen Interview besuchte, stand er unter Polizeischutz und die Türkei war noch ein laizistischen Staat.
Das ist heute anders, aber man konnte es kommen sehen. Istanbuls sunnitischer Oberbürgermeister und vermutlicher Drahtzieher der absurden Anklage gegen Auziz Nesin war von 1994 bis 1998 ein gewisser Recep Tyyip Erdogan. 1998 wurde er wegen Volksverhetzung zu mehreren Monaten Haft und einem lebenslangen Berufsverbot als Politiker verurteilt. 2001 war er Mitbegründer der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die ein Jahr später die Parlamentswahlen gewann und 2003 Erdogans Politikverbot durch eine Verfassungsänderung aufhob. Von solchen Leuten lässt sich trefflich lernen, wie politische Justiz geht.

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