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Dienstag, 24. Juni 2014

Was ist Europa? - Essays Stephan Wackwitz

Stephan Wackwitz: „Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 248 Seiten, 19,99 EURO.

Die Länder am Schwarzen Meer und am Kaukasus waren seit der Zeit Alexanders des Großen griechische oder römische Provinzen. Das antike Königreich Kolchis auf dem Gebiet des heutigen Georgien gehörte einmal genauso zur mediterranen Realität wie Delphi oder Korinth. Noch im Ersten Weltkrieg kämpften deutsche Soldaten auf der Krim und im Kaukasus für eigene und europäische Interessen. Das haben wir vergessen, meint Stephan Wackwitz. Sein Buch „Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan“ wird gerade durch den russisch-ukrainischen Konflikt um die Krim hoch aktuell.
Eindrucksvoll beschreibt der Leiter des Goethe-Instituts in Tiflis, warum Reisen nach Georgien, Armenien und Aserbaidschan auch Zeitreisen in die Sowjetzeit, die Vormoderne oder gar die Antike sind. Diese Länder am äußersten Rand Europas sind uralte Kulturregionen. Sie haben sich nach dem Ende des real existierenden Sozialismus nicht zuletzt deswegen von der Sowjetunion gelöst, weil die Menschen dort europäisch oder asiatisch denken, aber nicht russisch. Doch ihr Weg in die Moderne ist schwierig und nicht immer geradlienig. Stephan Wackwitz ist fasziniert von der Allgegenwart historischer Mythen:

Den Berg Kasbeg, an den Zeus der griechischen Mythologie zufolge Prometheus schmiedete, kann ich an schönen Tagen aus meinem Bürofenster sehen.“

Georgien erinnert Wackwitz an das Italien seiner Studentenzeit. Da haben die Modernisierung, der EU-„Teuro“, Nepp, Massentourismus und Spekulantentum noch nicht über alles Altertümliche und Archaische gesiegt. Selbst die Küche erscheint dem Autor als Balanceakt zwischen Italien und Persien. Vor allem aber die Architektur vermittelt dem Augenmenschen Wackwitz dieses Gefühl. Die Sprache der Architektur ist zudem, anders als Georgisch, allgemein verständlich.

Die Basare. Die persische Architektur der Karawan-sereien, der Oper, der Kunsthochschule aus dem 19. Jahrhundert und der ins Unterirdische führenden Mineralbäder. Die prächtige, selbst-bewusst an einer Hauptstraße gelegene Synagoge der Altstadt. Georgien ist vielleicht das einzige Land der Welt, in dem es nie einen nennenswerten Antisemitismus gegeben hat.“

Einen ganzen Essay widmet Wackwitz den vernachlässigten Bushaltestellen aus Sowjetzeiten in Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Im Gegensatz zur Plattenbau-Einförmigkeit im Wohnungsbau oder dem erdrückenden Titanismus öffentlicher Prestigeprojekte konnten sich hier Vielfalt, lokale Traditionen und freie Phantasie fast ungestört austoben. Schwarzweißfotos davon durchziehen das ganze Buch, Augenfutter zwi-schen Alltags-Illustration und Poesie.
„Architekturkritik als Laienpredigt“ - der Untertitel eines Aufsatzes von Christian Demand im Herbstheft 2012 der Zeitschrift „Merkur“, ist so etwas wie ein roter Faden dieses Buches. Der Germanist und Historiker Wackwitz ist ein Flaneur mit Blick auch für die sozialen Geschichten, die Bauten erzählen.
Dieser Blick gilt Städten wie dem muslimisch geprägten Baku – und Landschaften. Neben der sowjetischen Musterstadt Eriwan beschreibt er so auch verfallene Industriekombinate und ein Kloster aus dem 10. Jahrhundert im kahlen Bergland Armeniens:

Die urtümlich monumentalen (dabei rührend kleinen) Kreuz-kuppelkirchen, Vorhallen, Bibliotheksgebäude, Kapellen und Grabsteine sehen aus wie herausge-wachsen aus dem schwarzen Felsengrund. Als hätte das dunkle Steinland hier architekonische Blüten getrieben.“

Intellektuelle aus Tiflis, so Wackwitz, gehören seit 200 Jahren zur politischen und kulturellen Avantgarde Europas. Bis zum Zerfall der Sowjetunion waren sie klassische Leser, heute sind sie eher optisch orientiert, Jobnomaden mit Notebook und Smartphone, vielsprachig, selbstbewusst, international unterwegs zu Kongressen, Vernissagen und Konzerten. Wackwitz stellt uns sein Lieblingscafé in Tiflis vor, die wichtigsten historischen Künstler und einige aus der Generation Facebook, die noch wichtig werden könnten.
Dieses Buch beschreibt Phänomene, die wir kennen, etwa die Verbaustellung der Städte und bürgerliche Protestbewegungen. Es hilft aber auch verstehen, wie fragil, weil ungewohnt, demokratische Freiheiten in dieser Region noch sind. Das liegt wie in Russland auch an der erschreckenden Intoleranz der orthodoxen Popen, die zur Menschenjagd auf Schwule aufrufen. Die orthodoxe Kirche hat wie der Islam niemals eine Aufklärung erlebt.
Das Buch ist ein nachvollziehbarer Appell an alle wachen Zeitgenossen: Interessiert Euch, nehmt Kontakt auf, lasst Euch bereichern von diesen fernen Nachbarn. Und man erfährt, warum sich das lohnt.

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