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Sonntag, 27. Mai 2012

Von meinem Bücherbord: Erzähler

Carlos Ruiz Zafón, "Marina" (Roman, 350 S., 19.95 €, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.): Der Ich-Erzähler streift immer noch am liebsten durch die verwunschenen alten Villenviertel von Barcelona, wo er eines Tages - o Wunder - ein faszinierendes Mädchen namens Marina trifft. Und ab geht die Post ins düstere Geheimnis ihres Vaters (natürlich einst der reichste Mann der Stadt) und eine gruslige Mischung aus Schmerz, Trauer und Liebe. Immer noch spannend, aber nach den Bestsellern "Der Schatten des Windes" und "Das Spiel des Engels" substanziell eher mager. Sicher, der Mann kann schreiben, doch langsam gehen ihm anscheinend die Ideen aus. Sonst hätte die Mixtur nicht immer die gleichen Zutaten: Junge Frau, böser Alter, jugendlicher Held, Untote und Gespenster in der Kanalisation, viel Blut und Geschrei und am Ende ein alles vernichtendes Feuer.

Nino Haratischwili, "Mein sanfter Zwilling" (Roman, 380 S., 22,90 €, Frankfurter Verlagsanstalt): Die junge Autorin aus Tiflis erzählt die Geschichte einer leidenschaftlichen und destruktiven Liebe. Stella und Ivo schwanken zwischen erotischer Anziehung und hasserfüllten Streitereien in einer chaotischen Familie. Die Protagonistin Stella berichtet in Rückblicken von der Geschichte ihrer Familie: von der Affäre ihres Vaters Frank mit Ivos Mutter, von den Nachmittagen im abgelegenen Haus am Hafen, wo sich das Paar trifft und die Kinder die Erwachsenen bei der Liebe beobachten. Über ihre Eltern kommen sich Ivo und Stella näher und versuchen, deren Geheimnis vor Ivos Vater und Stellas Mutter zu verbergen. Am Ende steht noch eine Reise in politisch-historische Angründe: in die gemeinsame Heimat Georgien, in der ein blutiger Krieg auch Ivos Familie zerrissen hat. Tolle Bilder aus dem gastfreundlichen, schwer durchschaubaren Georgien, ein faszinierendes Psychodrama, aber zu viel Geheimnis für ein einziges Buch. Außerdem ist der "sanfte" Zwilling alles andere als sanft, sondern eher ein brutaler Anhänger der "Konfrontationstherapie".

Wladimir Kaminer, Liebesgrüße aus Deutschland" (Erzählungen, 288 S., 17,99 €, Manhattan Verlag bei Goldmann in Randomhouse): Der komischste eingewanderte Russe Deutschlands lebt immer noch in Berlin und macht immer noch herrliche Satiren. Nicht nur über sein Gastland und seine Heimat, sondern auch über Juden, Russen, Deutsche, Österreicher und andere Gruppen. Politisch korrekte Deutsche dürften niemals so schreiben, ohne dass sie mit der Moralkeule niedergestreckt würden. Aber Kaminer darf das Finanzamt, die Lebensgewohnheiten hierzulande, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Ausländer und Sex auf die Schippe nehmen, ohne dass was passiert. Vielleicht ist gerade das der einige kleine Beigeschmack: dass es ihm und uns so gut geht bei all edm Elend.

Cornelia Haller, "Seelenfeuer" (ein historischer Roman, 464 S., 17,99 €, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg): Die Autorin vom Bodensee hat mit ihrem Romandebüt die spannende Geschichte über die Hexenprozesse in Konstanz erzählt. Die Hebamme Luzia Gassner ist rothaarig, verfügt über exzellendes Wissen aus Kräuterheilkunde und Medizin. Das und ihr Selbstbewusstsein machen sie einer alt eingesessenen Kanzelschwalbe und Konkurrentin, die bei Geburten alles außer beten für "Sünde" hält, und bigotten Klerikern zur Zielscheibe von Hass und Vorurteilen. Nach einem schweren Unwetter, das ganze Landstriche in Armut stürzt, gelingt es dem abergläubischen und frauenfeindlichen Kaplan, den Mob gegen die angebliche Hexe aufzuhetzen. Nur ihr Onkel, der Apotheker in Konstanz, und der junge Stadtarzt halten zu ihr. Ein Inquisitionsgericht, ein Gottesurteil, die Pest, die Arbeit einer Hebamme und eines Arztes im Mittelalter: das alles wird lebendig in diesem Buch. Erkennbar Frauenliteratur und manchmal stilistisch ein wenig behäbig, entwickelt das Buch aber einen starken Sog, der den männlichen Leser bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt.


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