Seiten

Samstag, 21. April 2012

Schrei nach Freiheit - zum Tag des Buches


Zum internationalen Tag des Buches am Montag, 23., April, habe ich einen besonderen Buchtipp:

"Schrei nach Freiheit" von Samar Yazbek, Verlag Nagel und Kimche bei Hanser, München.

Nicht zufällig hat Rafik Schami ein Vorwort zu diesem Buch geschrieben. Der in Damaskus geborene Dichter hat hier seinenesgleichen entdeckt. Und er hat im arabischen Original die Romane von Samar Yazbek gelesen, die bei uns noch niemand kennt. Also hat er auch die Sprache erkannt, die diese Dichterin spricht. Es ist der Versuch, rettende, heilende, aber auch anklagende Worte zu finden, und ein kraftvoller Beleg für die therapeutische Kraft des Wortes zugleich. 
Dieses Buch ist ein erschütternder Bericht aus dem Inneren der syrischen Ravolution, aber es ist auch ein Tagebuch gegen die Angst. Die heißt "Schabbiha", und das sind gedungene Mörderbanden in Diensten des Assad-Clans: finstere Gestalten, die herhalten müssen für die Behauptung des Regimes, vom Ausland gesteuerte, bewaffnete Banden würden Unruhe stiften und syrische Zivilisten töten. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass es jedenfalls zum Teil Hisbollah-Kämpfer aus dem Libanon und Pastaran aus dem Iran sind: Gefangene, die kein Arabisch sprechen, persische Graffitti an Schauplätzen von Erschießungen.
Die Autorin gehört zur alawitischen Bekenntnisrichtung des Islams, der im Iran und bei der Hisbollah vorherrscht und dem auch die Assad-Clique in Syrien angehört. Da sie mit offenen Augen durchs Land fuhr und in den gepeinigten Städten mit den Opfern der maßlosen Gewalt sprach, ohne auf die Konfession zu achten, wurde sie von ihrer eigenen konservativen Familie als Verräterin abgestempelt und auf Flugblättern für vogelfrei erklärt. Sie hat sich nicht einschüchtrern lassen. Und hier ist ihr Zeugnis.
"Es stimmt nicht, dass der Tod, wenn er kommt, deine Augen haben wird" Es stimmt absolut nicht, dass der Wunsch nach Liebe und der Wunsch nach dem Tod einander gleichen. Vielleicjt gloeichen sich die beiden Wünsche in der Sehnsucht nach Auflösung. Die Gedanken der Menschen waren schon immer erhabener als ihre leibliche Existenz". So beginnt keine Reportage, keine Polemik, kein politischer Essay. So beginnt eine Augenzeugin zu sprechen, die Dichterin ist und der es die Sprache schier verschlägt angesichts der Barbarei, die sie mit ansehen muss. Vier Monate lang. Bis sie mit ihrer Tochter die Heimat verlässt, weil die vom Geheimdienst verfolgt wird. Lesen Sie selbst. Es ist kein Gutenachtbuch, aber ein not-wendiges Buch.
Die Autorin hat ihre Beobachtungen oft in einer geradezu poetischen Sprache der Trauer formuliert. Wenn ihr die Vorgänge nicht gerade vor Entsetzen buchstäblich die Sprache verschlugen. Entsetzlich Recht hat die Autorin auch, wenn sie (übrigens nur ein einziges Mal gegen Ende) vor der Ausreise aus Syrien schreibt: "Ich lasse meinen Zorn über die Intellektuellen zurück, die zum Töten schweigen, über ihre Feigheit und ihre Angst."

Dieses Buch ist eben keine neuerliche Beschimpfung von Assad (obwohl ich mich frage, warum man da etwas gegen haben sollte); es ist vielmehr die Art genauer Beobachtung, wie sie durch Twitter oder YoTube-Filmchen allein nicht möglich ist: Gespräche mit Dutzenden von Aktivisten, Opfern, Offizieren, Soldaten, Deserteuzren, die der Autorin ihre Geschichten erzählen. Beschreibungen, wie die Todesschwadronen aussehen, die wohl z.T. aus iranischen Pastaran oder libanesischen Hisbollah-Kämpfern bestehen, wie sie zu Armee und Geheimdiensten stehen, wie das Regime ihre perfide Arbeitsteilung organisiert und wie sich eine wirklich tapfere Opposition konspirativ weiterbildet und diesen Banditen meist trotz allem einen Schritt voraus ist - davon kann man eine Menge lernen. Dazu Spannende Reportagen über Taxifahrten in verbotenes Gebiet voller Checkpoints zeigen weit mehr als alle Fernsehbilder von jenseits der türkischen Grenze.

Die Autorin wirft dem Westen kein Schweigen vor, sondern höchstens Feigheit und mangelnde Konsequenz in einer Diplomatie, die mit ausgewiesenen Massenmördern "Dialoge" führt und sich dabei nach Streich und Faden verarschen lässt. Nichts gegen Beobachter: aber während all dieser seit Monaten andauernden scheinheiligen Manöver sterben jeden Tag Menschen. Aus dieser Innensicht der Autorin darf man auch keine Dialogbereitschaft erwarten. Die Autorin erwähnt dennioch ausdrücklich die Solidarität Frankreichs und der USA, die das syrische Volk bei seinem Weg zum demokratischen Wandel unterstützen wollen. Und wir sollten wieder mal in aller Solidarität schweigen?! 


Freitag, 13. April 2012

Buchtipps in Kürze

 Ein herrlich wütendes Buch

Renan Demirkan (Foto: Ayshe Gallé)
"Respekt" von Renan Demirkan ist einer dieser Glückstreffer, die man in einem Rutsch durch lesen kann. Wo andere angesichts Grassierender Sarrazinaden über Toleranz nachdenken, geht diese Deutschtürkin weiter bzw.tiefer. Diese so zart wirkende, so stark formulierende und so intensiv lebende Schauspielerin zeigt einmal mehr, warum sie 1998 das Bundesverdienstkreuz erhalten hat.

Ihr drittes Buch ist eine Auseinandersetzung sowohl mit Intoleranz als auch mit falsch verstandener Toleranz, die zu sozialer Ausgrenzung führt und scheinbare Freiheiten gewährt, weil sie Gleichberechrigung nicht erträgt: "Jedoch sichert diese Sicht von Freiheit nur denen besondere Vorteile, die der Gesichertheit ihrer Macht gewiss sein können. All jenen, die sagen: Hier bestimme ich die Richtlinien, und der Rest ist Personal". Die unselige Debatte um eine Leitkultur klingt da an, aber auch der Philosoph Herbert Marcuse, den Demirkan besser kennt als die meisten Deutschen. Der beschreibt die verbreitete Foem von Toleranz als unparteiisch, weil sie "davon absieht, sich zu einer Seite zu bekennen und damit die etablierte Maschinerie der Diskriminierung" in Gang hält. Sie wird auf politische Verhältnisse, Verhaltensweisen oder Lebensbedingungen ausgedehnt, die kein anständiger Mensch tolerieren darf: Null Toleranz für Unmenschlichkeit und Intoleranz.
Im Gegensatz dazu ihre Forderung nach Respekt gegenüber dem anderen, auch dem Fremden. Respekt nimmt den anderen an und lässt ihn so sein, wie er ist, ohne herablassende "Duldung". Respekt ist zwar ohne Gerechtigkeit nicht zu haben, aber nicht identisch damit, weil Gerechtigkeit nicht alles ist: "Wenn aus Gerechtigkeit Demütigung wird, wird aus Scham Gewalt und aus Frieden Krieg." Die Autorin setzt sich mit Verhältnissen auseinander, die unter "Effizienz" nicht die Verbesserung der Arbeit verstehen, sondern deren Abschaffung, um deren Ersatz durch digitale Systeme. Menschen stören da nur. "Die Einführung der Zeitverträge ist für mich nicht nur der größte Bluff der modernen Arbeitswelt, sondern neben der atomaren Verseuchung und der Zerstörung der Umwelt eine der größten Menschenrechtsverletzungen der Moderne" - für solche Sätze muss man diese Frau lieben.
Derlei Effizienz bricht zusammen bei jedem Stromausfall oder Schneesturm, Börsencrash oder PC-Virus. Stattdessen fordert sie Kreativirät und Menschlichkeit: Einstellungen, die eine Lösung für Probleme finden und systemrelevanter sind als jede Bank. Renan Demirkan geißelt eine Denke, die radikale Flexibilität predigt, ständige Verfügbarkeit, Mobilität und absolute Bildungslosigkeit. Bill Gates, Steve Jobs und solche Leute mögen so funktionieren, aber keine Gesellschaft. Deshalb sind diese "Führungskräfte" asozial und nicht besser als die Mitglieder von Kreuzberger Straßengangs: "Es ist fast unmöglich", schreibt Demirkam, "sich verantwortlich zu fühlen für eine Arbeit auf dem Schleudersitz, ganz gleich in welchem Lohnsektor. Ob als Lehrer oder als Handwerker mit Zeitvertrag. Ob als Schauspieler oder als Altenpfleger". Unbedingt lesen! Erschienen, das muss auch mal gesagt werden, im katholischen Herder Verlag.
Renan Demirkan: "Respekt". Herder Verlag, Freiburg i.Br., 159 S., 16,95 €


Demokratie denken



Miguel Abensour ist Professor für politische Philosophie in Paris. Und da wir solche Leute gar nicht haben, sollte man sein Buch "Demokratie gegen den Staat" lesen. Was haben der Kaiser von China, Baschar al Assad, Barak Obama und Angela Merkel bei aller Verschiedenheit gemeinsam? - Sie denken, sie hätten schon allein deshalb Recht, weil sie regieren, weil sie die Macht haben, weil sie den Staat leiten und repräsentieren. Irrtum, sagen Millionen in New York und Madrid, Damaskus und Kairo, Athen und Tel Aviv, Stuttgart und Berlin, London und Frankfurt, übrigens auch in St. Petersburg, Peking und Teheran. Sie gehen auf die Straßen und fordern hartnäckig wie noch nie gegenüber dem Staat ihre Rechte ein. Welche Rechte? Was ist auf einmal los? Nicht nur arabische Despoten, sondern auch demokratische Regierungen tun sich schwer damit.
Vielleicht muss Demokratie neu gedacht werden. Miguel Abensour versucht diesen Weg und beginnt überraschend - bei Karl Marx. Den hatte bisher niemand so recht im Verdacht, ein Demokratietheoretiker gewesen zu sein. Doch seine frühen Schriften, die bis 1990 weitgehend im Giftschrank sozialistischer Archive versteckt lagen, scheinen das Gegenteil zu beweisen. In diesen Schriften zeigt sich eine Theorie der Demokratie, bei der die Demokratie nicht identisch ist mit dem Staat, der sie angeblich verwaltet. Wer das deutsche Grundgesetz gelesen hat, ahnt schon:  Demokratie entsteht aus dem Volk heraus, und auch alle Macht im Staate geht vom Volk aus. Tja, nichts zu machen: Das lässt sich mit den aktuellen Machtverhältnissen oft nicht vereinbaren. Das Volk will mitreden und teilhaben an der Macht. Da bricht sich etwas Bahn, und hier ist die Theorie dazu:
Miguel Abensour: "Demokratie gegen den Staat", Suhrkamp Verlag, Berlin, 269 S., 24,95 €


Schatten im Netz: "Cybercrime" oder wie Hacker von Armeen lernen



Nicht zufällig hat der britische Journalist Misha Glenny seine ersten Bücher über das organisierte Verbrechen gescheieben (McMafia", 2008). Jetzt ist er konsequent im Internet gelandet mit dem Titel "Cybercrime. Kriminalität und Krieg im digitalen Zeitalter". Es ist nicht lustig, aber es ist höchst unterhaltsam, zu lesen, wie nah jeder Inhaber eines PC, eines Smartphone oder einer Kreditkarte daran ist, Opfer eines Verbrechens zu werden. Oder wie leicht es sein kann, dass er es längst geworden ist, denn gute Hackerangriffe bemerkt man nicht. Der Mensch ist faul, und Gewöhnung an die dienstbaren digitalen Geister hat auch gefährliche Abhängigkeiten entstehen lassen.
Ich habe es jedenfalls schon einmal am eigenen Leib bzw. Konto gespürt: Irgendwann fiel mir auf, dass seit drei Monaten ein unerklärlich krummer Betrag von 29,95 € abgebucht wurde, den ich nirgends zuordnen konnte. Im aktuellen Monat konnte ich die Bank anweisen, die Abbuchung als ungerechtfertigt zurückzurufen und die "Erlaubnis" zu streichen, die ich nie erteilt hatte. Aber weiter zurück ging nichts. Ende der Fahnenstange war bei einer schwarzen Liste mit Briefkastenfirmen. Rund 90 € waren weg, vermutlich in irgend einem digitalen Bermudadreieck auf dem Balkan, in Ostasien oder Afrika. Der Kern des Tricks: Der Betrag war unauffällig klein. Das merken nur wenige, und wer es merkt, geht wegen so was nicht zur Polizei und führt einen Riesen-Papierkrieg. Millionanfach durchgezogen rechnet sich das enorm. Gangster wissen das. Sie haben es meistens von Banken oder Versicherungen oder gar vom Finanzamt gelernt, wo genau das Gleiche als "Fehler" vorkommmt, der kaum je korrigiert wird, weil die Korrektur die Mühe kaum wert ist.
Das Leben im Internet hat große Vorteile. Digitale Kommunikation ist schnell und bequem und daher fast allgegenwärtig - von der Supermarktkasse bis zur Fernsteuerung einer tödlichen Rakete. Die Kehrseite der Medaille: als Nutzer sind wir verwundbarer, als die meisten glauben. Mit dem Fortschritt der Computerprogramme und der Alltagstauglichkeit von Techniken wie Bankomat, Handy-Spionage, Navigationsgerät oder dem praktischen Fernzugriff auf meinen Computer bzw. meine E-Mails steigt der kriminelle Missbrauch explosionsartig an. Jeder Durchschnittsjournalist, Fernfahrer oder Hobbysegler hat heute mehr digitale Technik an Bord als vor 20 Jahren ein Flugzeugträger der US-Army. Und das Zeug ist so billig und so einfach zu benutzen, dass jeder Halbwüchsige bis hin zum grenzdebilen Schulabbrecher damit umgehen kann. Und da wundern wir uns, wenn einige auf dumme Gedanken kommen?
Misha Glenny zeigt: nie war es so schwer, mit ehrlicher Arbeit Geld zu verdienen, weil es noch nie so leicht war, mit ein paar Mausklicks ans Geld anderer Leute zu kommen. Er bietet einen tiefen Einblick in die Welt der Hacker, Spione und digitalen Betrüger . Sie leiten auf falsche Websites um, wo Kontonummern und Passwörter abgefischt werden. Sie leiten ahnungslose Telefonsex-Kunden um auf exorbitant teuere Nummern im Ausland, und die Beute teilen sich ein paar Girls mit den Betreibern. Oft gehört es zur Strategie solcher Banden, gezielt Kranke und Alte auszuspähen, die emotional oder psychisch gestört, einsam, suchtkrank und somit extrem leicht auch hier abhängig zu machen sind. Manche Datenbanken im Gesundheitswesen sind für solche Leute die reinsten Kundenlisten. Wie viele Selbsthilfegruppen bieten bereitwillig Kontaktdaten an? Und schon hängen sie am Haken.
Den Zynismus und die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Szene teilweise agiert, hat sie ebenso wie die Technik von Geheimdiensten und Armeen gelernt. Die spionieren sich schon seit der Erfindung des Cyberspace gegenseitig aus und führen inzwischen regelrechte Kriege auch mit ferngesteuert manipulierter Hardware. Nordkorea, China, aber auch Israel und die USA (zuletzt im Fall der iranischen Atomreaktoren, in die sie einen Computerwurm einschleuseten) sind hier führend. Aber auch die Bundeswehr hat inzwischen ein Batallion von Cyberkriegern eingerichtet, um Angriffe auf deutsche Infrastruktureinrichtungen aus dem Netz abwehren zu können. Gefährdet sind vor allem Kraftwerke, Pipelines, Energieversorgung, Verkehrsleitsysteme, Flugsicherheit und öffentliche Verkehrsmittel. Aber auch Sie, liebe Leser. Hier können Sie mehr über die miesen Tricks erfahren, um ihnen auszuweichen:
Misha Glenny: Cybercrime. Kriminalität und Krieg im digitalen Zeitalter". DVA, München, 352 S., 19,99 €

Dienstag, 10. April 2012

Nachtrag zu Grass: Freiheit der Kunst trotz allem!

die Grass-Debatte ist sicher notwendig, aber eines scheint mir dabei aus dem Blick geraten zu sein: 

Die Freiheit der Kunst ist entweder oder sie ist nicht. Darum geht es hier in erster Linie. Grass hat kein literarisches Lob für sein Gedicht verdient, aber ich muss mir täglich Schlimmeres anhören - politisch und künstlerisch. Was "unerträglich" ist, wird auch in unserer angeblich noch freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zunehmend von selbst ernannten Sittenwächtern definiert, die selbst nicht den geringsten Widerspruch ertragen und anscheinend nichts bei Mobbing finden: jemanden "Antisemit" nennen geht da noch als "Kritik" durch. Gegen solche Heuchelei fordere ich mehr als offene Briefe. Da gehört eigentlich eine Resolution her - von PEN und VS!
Vor allem die FDP verkennt so brachial wie dumm, dass sie als Freiheitspartei die Freiheit der Kunst und des Wortes um jeden Preis verteidigen müsste statt Grass anzugreifen. So etwas beweist nur das niedrige Niveau des Streits. Wer Recht hat und wer nicht, ist in der Sache längst unerheblich geworden. Entscheidend für Bewertungen und Positionen muss hier die Frage sein, ob ich die Meinung des anderen noch gelten lasse oder nicht.
Auch ich fühle mich übrigens als Autor in einer existenziellen Notlage - durch dergleichen dämliche Kultur- und Medienpolitik (vorwiegend von Parteigängern der CDU und FDP)und eine Denke der Enteignung wie bei der Piratenpartei. Trotzdem schlage ich nicht verbal hemmungslos um mich und vergesse auch nicht die Grundregeln der Toleranz!

Mittwoch, 4. April 2012

Wider die Seuche mit falschen "Antisemitismus" - Debatten

Über die "Antisemitismus"-Debatte wegen eines Gedichts von Günter Grass schrieb die Berliner Schriftstellerin Ruth Fruchtmann in einem Forum des Schriftstellerverbandes (VS):
"Da das Gedicht von Günter Grass eine solche Welle der Empörung ausgelöst hat, bitte ich sehr um Unterstüztung für ihn. Jede(r), ob jüdisch oder nicht-jüdisch, soll das Recht haben, diese menschenverachtende Politik Israels zu kritisieren und zu verurteilen, ohne als Antisemit diffamiert zu werden.
Als jüdische Autorin bin ich sehr froh, daß Grass sich geäußert hat.
Herzliche Grüße
Ruth Fruchtman

Dazu kann es unter anständigen Menschen nur eine Antwort geben, und die habe ich zu formulieren versucht:

Liebe Freunde und VS-Mitglieder,

das sehe ich ganz genau so. Das Gedicht hat zwar sehr begrenzte lyrische, aber dafür starke politische Qualitäten. Schon vor vielen Jahren hat mich mein Bruder sensibilisiert füpr die Verbrechen, die an den Palästinensern geschehen. Als Projektleiter bei Misereor unterstützte er dort eine landwirtschaftliche Schule un d sagte nach seiner ersten Inspektionsreise: "Die Israelis benehmen sich da wie die DDR". Schatila habe ich selbst noch gut in Erinnerung: Der General, der das Massaker in diesem palästinensischen Flüchltingslager zu verantworten hatte, weil seine Truppen den mordenden Milizen tatenlos zusahen, war ein gewisser Ariel Sharon. Dann wurde dieser Mann Ministerpräsident, und auch sein Nachfolger möchte mit Atomwaffen spielen. Meine Familie war immer christlich, und ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, das unsere Wurzeln jüdisch sind. In mir lebt eine tiefe Sympathie für den jüdischen Glauben und die jüdische Kultur, ein tiefes Mitgefühl für die jüdische Geschichte und große Scham über das deutsche Verbrechen Holocaust. Ich habe jüdische Freunde.

Aber man muss seine Freunde wirklich noch warnen und ihre Fehler kritisieren dürfen, ohne als "Antisemit" beschimpft zu werden. Dieses demokratische Grundrecht scheinen Psychopathen wie Henryk M. Broder und Ralph Giordano nicht zu ertragen. In unglaublicher Intoleranz haben diese beiden schon mehrfach solche Formen von Mobbing versucht und dabei mit ähnlichen Diffamierungen im PEN-Club Liechtenstein z.T. lebenslange Freundschaften zerstört. Humanismus geht anders, Kollegen! Anstand erst recht. Diese Leute sind keine moralischen Instanzen, sondern haben sich von irregeleiteten Opfern zu üblen Typen entwickelt, von denen kein Hund mehr ein Stück Brot nehmen sollte. Mein Vorschlag: Hört ihnen einfach nicht mehr zu. Ohne Aufmerksamkeit gehen sie ein wie die Rose von Jericho ohne Wasser.

In der Sache bin ich für klare Positionen: Ein atomarer Erstschlag Israels wegen eines bislang unbewiesenen Verdachts gegen den Iran wäre in der Tat ein riesiges Verbrechen, und dazu darf Deutschland niemals die Hand reichen. Paranoia darf man nicht fördern - man muss dagegen kämpfen. Und das tut man gewiss nicht mit Stimmenthaltungen im UN-Sicherheitsrat, wenn es gegen arabische Diktatoren geht, oder mit unbedachten Solidaritätsadressen für aggressive Paranoiker wie z.B. heute wieder durch mehrere CDU-Abgeordnete. Zwar ist der ganze Nahe Osten ein paranoides Pulverfass und die Ängste der Israelis muss jeder verstehen, der immer wieder hören muss, wie ein paar verrückte Fanatiker das Existenzrecht dieses Staates bestreiten. Aber erstens sind die meisten Muslime ganz anders drauf als diese Irren, und zweitens muss es nicht gerade deutsche Waffentechnologie sein, die den Wahnsinn fördert.

Überhaupt: Wir verkaufen entschieden zu viele Waffen. Und es ist ein weit größerer Skandal, über den niemand spricht, dass Angela Merkels Geheimdeal mit 200-270 Leopard-Panzern an Saudiarabien - ein brutaler Verstoß gegen deutsches Recht (Kriegswaffenkontrollgesetz: keine Waffen in Spannungsgebiete) und internationale Abkommen - einfach totgeschwiegen wird. In Dutschland gibt es hier keine klare Linie, aber genau die wäre absolut dringend nötig für unsere Glaubwürdigkeit in der Welt! Der "arabische Frühling" stockt nicht zuletzt wegen dieser ambivalenten Schwäche deutscher Außenpolitik - und damit die Demokratisierung in einem großen Teil der Welt. Es sind nicht Demokratien, die Israel bedrohen - es sind Autokraten und Theokraten, die noch zu viele deutsche Politiker unterstützen. Dieses böse Spiel sollten wenigstens intelligente Menschen nicht mitmachen.

Herzlicher Grüße,
Widmar Puhl

Sonntag, 1. April 2012

Verein für politische Bildung gegründet

Im Theaterhaus Stuttgart hat Walter Sittler heute den Verein "Artikel 5 e.V." gegründet, um die alternative freie Zeitung "einund20" zu unterstützen. Der Schauspieler, der nach eigenem Bekunden nie einem Verein angehören wollte, ließ sich diesmal sogar zum Vorsitzenden wählen. Der Grund: 
"Ich will echte Informationen, auch wenn sie unangenehm sind. Ich bin die Meinungsmache leid, bei der Informationen so lange verdreht und zurechtgeschustert werden, bis sie in das Bild der Verantwortlichen passen. Und ich ermutige alle Menschen, unsere Demokratie wieder mit mehr unabhängigem Journalismus zu begleiten.“
Die Zeitung, um die es geht, ist aus dem Widerstand gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 entstanden, hat sich aber inzwischen vom Protestblatt zur unabhängigen freien Alternative zur kommerziellen Presse entwickelt. Den Redakteuren und Autoren geht es inzwischen um sehr viel mehr: Die Pressefreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes. Um ihnen den Rücken frei zu halten, aber auch um Förderer und Geld zu sammeln, um neben Abonnements, Kioskverkauf und Anzeigen "den Stuhl stabil auf vier Beine zu stellen", ist der Verein da. 
Chefredakteurin Michaele Heske über die publizistischen Lücken, die ihr Blatt möglichst schließen möchte: "Stadtplanung und Stadtsanierung, der Patrizia-Deal, Armut in einer so reichen Stadt wie Stuttgart und natürlich die anstehenden Oberbürgermeisterwahlen sind einige der Themen, die wir aus anderen Blickwinkeln und fundierter als in der Tagespresse aufarbeiten wollen. Außerdem kommt - wie eben vieles andere auch - die alternative Kultur in den Medien immer wieder zu kurz. Deshalb haben wir den Verein Artikel 5 e.V. gegründet, der die Zeitung "einund20 tragen" soll. Wir sind entschlossen, in Stuttgart eine alternative Zeitung dauerhaft zu etablieren." 

So ein Printprojekt trägt sich nur auf vielen Schultern. Es kamen rund 60 Menschen, die nicht nur Geld geben wollen, sondern auch die unterschiedlichsten Fofrmen direkten bürgerschaftlichen Engagements einbringen. Gedacht ist an eine planbare, feste, zusätzliche Finanzierung neben der durch Abonnenten, Spenden und dem Verkauf Verklauf am Kiosk. 
Zu den Prominenten in diesem Kreis gehören neben Walter Sittler auch der Kabarettist Peter Grohmann und die Sängerin Dacia Bridges. Bis Ende April soll außerdem feststehen, ob die Wochenzeitung "kontext" in irgend einer Form integriert werden kann oder unabhängig fortbesteht. Auch sie war ein Kind der Proteste gegten Stuttgart 21, hat aber inzwischen finanzlelle Probleme und verweigert sich doch der naheliegenden Idee einer direkten Fusion der beiden Blätter. Die Bürgerbewegung in Stuttgart ist eben alles andere als homogen und setzt durchaus unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte.