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Donnerstag, 21. Oktober 2010

Vergangenheitsbewältigung auf Kolumbianisch

Juan Gabriel Vásquez: „Die Informanten“. Roman.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag 
Schöffling & Co, Frankfurt a.M., 379 S., 22,90 €

Vergangenheitsbewältigung ist in dem Maß Stoff für Literatur, wie sie juristisch nicht gelingen will. Stoff dafür ist das Unglück vieler Menschen in rechten und linken Diktaturen ebenso wie die Tatsache, dass die Schuldigen oft Jahrzehnte lang unerkannt oder aus politischen Gründen unbehelligt blieben. Für gewöhnlich ist klar zu unterscheiden zwischen Tätern und Opfern – einfach aufgrund ihrer Verhaltensweisen. Dass es so einfach nicht immer ist, zeigt der beunruhigende Roman-Erstling des 37 Jahre alten, in Barcelona lebenden Kolumbianers Juan Gabriel Vásquez, „Die Informanten“.


Der Roman handelt von einer schwierigen Vergangenheitsbewältigung. Ein Ich-Erzähler namens Gabriel Santoro, Kolumbianer und Journalist wie der Autor, schreibt ein Buch über das Schicksal deutscher Einwanderer während des Zweiten Weltkriegs. Dafür erzählt ihm Sara, eine deutsch-jüdische Jugendfreundin seines Vaters, von ihrem Leben im Exil und von den „schwarzen Listen“ potenzieller Nazi-Sympathisanten. Aus Loyalität gegenüber dem Vater verschweigt sie aber, dass der in die Sache verwickelt war.
Ab 1941 führten die CIA und die Regierung in Bogotá diese Listen. Schon der Verdacht oder eine anonyme Anzeige genügten, und der Betreffende verlor seine Arbeit und wurde interniert. Santoro senior, inzwischen ein angesehener Mann, hat damals einen Unschuldigen denunziert, der sich das Leben nahm. Und er reagiert mit der Panik des Schuldigen auf das Buch seines Sohnes.

Erinnerung ist nicht öffentlich, Gabriel. Das haben weder du noch Sara begriffen. Ihr habt Dinge an die Öffentlichkeit gezerrt, die viele von uns gern im Vergessen belassen hätten… und jetzt sind diese Listen wieder in aller Munde, die Feigheit gewisser Denunzianten, die Angst der fälschlich Angezeigten.“

Der Leser braucht eine ganze Weile, bis er die komplexen Zusammenhänge erkennt. Aus Saras Erinnerungen erfährt man, wie der alte Santoro den Vater eines Freundes denunzierte, und wie der sich umbrachte, als Frau und Sohn sich von ihm lossagten. Der Leser weiß nie mehr als der recherchierende Junior, und der ist nicht auf eine simple Verurteilung seines Vaters aus. Er bezieht den Leser vielmehr ein in einen mühsamen Prozess der Aufklärung voller Überraschungen.
Eine Herzoperation des alten Santoro führt zur Versöhnung mit seinem Sohn. Der Senior verliebt sich sogar noch einmal und versucht, den Fehler seines Lebens in diesem neuen Leben wieder gut zu machen. Dass der Vater auch Enrique zu einer Aussprache traf, den Sohn seines Opfers, erfährt Gabriel Santoro erst, nachdem sein Vater bei einem Autounfall auf der Rückfahrt von diesem Besuch ums Leben gekommen ist. Auch Enrique, durchaus eine sympathische Figur, erscheint als Opfer und Täter zugleich.
Als Enriques Vater 1941 in Bogotá einem frisch zugezogenen, ihm unbekannten deutschen Landsmann, der sein Gast war und Nazi-Parolen von sich gab, nicht entschieden genug entgegen trat, wandte auch er sich von seinem Vater ab. Und als dieser auf der „schwarzen Liste auftauchte“, erklärte Enrique seiner Mutter, das hätten sie davon, sich mit Nazis einzulassen. Gabriels Vater sagte damals zu der gemeinsamen, deutsch-jüdischen Jugendfreundin Sara:

Niemand ist, was er zu sein scheint. Niemals, denn selbst die simpelste Seele hat ein zweites Gesicht.“ Ja, sagte Sara, als Philosophie mochte das taugen, aber an Enriques Wesen, seiner Haltung, seiner Ausdrucksweise hatte nichts, rein gar nichts auf derlei hingewiesen. Für sie war es ein Verrat… Ein starkes Wort. Aber den Vater verraten ist etwas, was nur in der Bibel vorkommt.

Juan Gabriel Vásquez stellt alle Quellen seiner Geschichte in Frage, selbst seine eigene Haltung als Autor. Ist die Veröffentlichung von Informationen über das Leben anderer nicht auch eine Form von Verrat? Und wie muss öffentliche Erinnerung aussehen, wenn sie nicht moralisch überheblich sein will? Dieser Zwickmühle kann der Autor nur durch den Prozess des Schreibens selbst entkommen – wenn er sich und den Leser zwingt, auch den Standpunkt der jeweils anderen Seite einzunehmen.

Bei diesem Schreibprozess würde mein Vater für mich nicht länger die trügerische Gestalt sein, die er selbst angenommen hatte, sondern sein wahres Gesicht beanspruchen, wie es alle unsere Toten tun: indem er mir als Erbe die Pflicht mitgab, ihn zu entdecken, ihn zu interpretieren, herauszufinden, wer er wirklich gewesen war.

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