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Donnerstag, 16. Oktober 2008

SWR2 Buchkritik: Alfred Hackensbergers Islam-Lexikon

Alfred Hackensberger: „Lexikon der Islam-Irrtümer. Vorurteile, Halbwahrheiten und Missverständnisse von Al-Quaida bis Zeitehe“.
Eichborn Verlag, Frankfurt a.M., 274 Seiten, 19.95 €.

Alfred Hackensberger ist Journalist und lebt mit seiner Familie in Marokko. Seit vielen Jahren berichtet der gelernte Germanist, Gesellschaftswissenschaftler und Polititologe für angesehene Zeitungen und Sender aus der arabischen Welt. Dass er die Landessprache gelernt hat, macht einen ihn zwar nicht automatisch zum Islam-Kenner und Religionsversteher, aber es nutzte ihm beim Verfassen seines hilft. Gerade bei einem „Lexikons der Islam-Irrtümer“, wo in dem es um Vorurteile, Halbwahrheiten und Missverständnisse des Westens gegenüber dieser Religion geht.
Hackensberger beherrscht die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. Das hilft dem Leser, das Gleiche zu tun, und so erfährt man schon unter dem Buchstaben „A“ historisch Gediegenes und flott Erzähltes über Andalusien, den arabischen Sender Al-Dschasira, die zwiespältige Wirklichkeit beim Thema Alkohol und muslimischen Antisemitismus.
Von den schwankenden Sympathiepegeln für Al-Quaida, über die nicht gerade unerheblichen Unterschiede zwischen der palästinensischen Befreiungsorganisation Hamas und der militanten, am Iran orientierten Hisbollah im Libanon bis hin zum Koran selbst, mit dem was drinsteht und was nicht: Was vor allem auffällt, ist gediegenes historisches Wissen und ein differenzierter Umgang mit heißen Eisen. Einleuchtend widerlegt der Autor z.B. das Vorurteil, der Koran sei ein Buch der Gewalt, vor allem gegen Frauen und Nichtmuslime. Leider fehlt aber eine sprachliche Analyse, die erklärt, warum Angst und verbale Gewalt mit ständigen Strafandrohungen auch denn Islam prägenals Religion der Angst und der verbalen Gewalt mit ständigen Strafandrohungen prägt, solange man denm archaischen Wortlaut Texten buchstabengetreu folgt.
Das ist eine der wenigen Schwächen dieses Buches. Eine zweite ist paradoxerweise gerade die alphabetische Ordnung der Artikel. Auf Seite 80 findet sich z.B. die sinnvolle Definition des Begriffs „Fatwa“. Das sind Lehrmeinungen islamischer Gelehrter zu nicht eindeutigen Regelungen der Scharia, des islamischen Rechts. Auch der Hinweis auf die unterschiedliche Bedeutung einer Fatwa für Sunniten und Schiiten passt hierher.
Doch erst auf Seite 229, beim Stichwort „Rushdie, Salman“, findet man den wichtigen Hinweis, dass das Todesurteil gegen diesen Schriftsteller keine Fatwa war. Hackensberger erklärt auch schlüssig, was so ein Urteil von einer Fatwa unterscheidet und warum es keineswegs so einfach geändert werden kann wie eine Fatwa. Aber da nun einmal der Begriff Fatwa bei uns im Zusammenhang mit Salman Rushdie bekannt wurde, gehören solche Informationen wohl besser zusammen unter „Fatwa“. Ein Alphabet ist eben kein inhaltliches Ordnungssystem, die Schublade „Lexikon“ für dieses Buch also manchmal irritierend. Eigentlich handelt es sich um Essays, denen eine thematische Ordnung gut täte – in Verbindung mit einem guten Stichwortregister.
Andererseits präsentiert Hackensberger erstmals neue textkritische Untersuchungen. Sie beleuchten die Zeit im 7. und 8. Jahrhundert, bevor der Koran niedergeschrieben war, als „dunkle Periode“, über die aus erster Hand nicht viel zu erfahren ist. Sie beschreiben vorislamische Mythen und stellen sogar den Propheten Mohammed als konkrete historische Figur in Frage.
Richtig spannend sind Informationen wie die, dass die erste Version des Korans nicht einmal in arabischer Sprache entstand, wie die meisten Muslime behaupten – und auch der Koran selbst. Das Heilige Buch wurde vielmehr zuerst in der Ssyro-Aaramäischen Sprache niedergeschrieben, dasie damals auf der arabischen Halbinsel gesprochen wurde. Vor dem Ende des 8. Jahrhunderts gab es gar keine arabische Grammatik. Dass islamische Geistliche oft noch an mittelalterlichen Deutungsmustern kleben, erinnert an den verkrusteten katholischen Katechismus von Papst Pius XII: noch gar nicht so lange her, aber doch gründlich überholt.
Eine besondere Stärke des Buches sind die vielen Beispiele aus dem persönlichen Umfeld des Autors. Was ihm Nachbarn, Freunde, Studenten, Interviewpartner und Taxifahrer erzählen, was er mit eigenen Augen beobachtet, das alles ist mindestens ebenso lehrreich wie alle Theorie. Ob es um religiöse Rituale und Bräuche geht, um das Fasten im Ramadan, Geschäfte, Feminismus oder Sex im Islam: Dieses Buch sollte man auf keinen Fall nur zum Nachschlagen benutzen, sondern richtig lesen.

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