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Sonntag, 3. August 2008

Abwege der Phantasie

Der Erzähler Markus Orths ist 39 Jahre alt, ein gelernter Lehrer aus Viersen am Niederrhein und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Er studierte Romanistik, Englisch und Philosophie in Freiburg und arbeitete erst mal ein Jahr in Paris, bevor er als Referendar nach Stutensee bei Karlsruhe kam. Beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt erhielt er den Telekom Austria Preis, immerhin mit 10 000 EURO dotiert und so etwas wie der zweite Preis der Veranstaltung: Für seinen Roman „Das Zimmermädchen“, der wie alle seine Bücher in den letzten Jahren beim Frankfurter Schöffling Verlag erschienen ist (Verlag Schöffling & Co., Frankfurt a.M., 138 S., 16,90 €).

Eigentlich stört mich nur, dass heute die meisten Verlage jede längere Erzählung „Roman“ nennen. „Das Zimmermädchen“ ist schon deshalb keiner, weil man nicht erfährt, wo die Hauptfigur herkommt und wo es endet mit ihr. Lynn, 33 Jahre alt, allein lebend, eins fünfundsechzig groß, Haarfarbe braun, Augenfarbe grün, hat ein halbes Jahr in der Psychiatrie verbracht. Warum, dafür gibt es nur Andeutungen: es könnte wegen Kleptomanie gewesen sein, zwanghaftes Stehlen. Auf jeden Fall benimmt sich Lynn zwanghaft, als sie zurück in ihre Wohnung kommt, die ein halbes Jahr leer stand:

Alles ist so, wie sie es sich vorgestellt hat. Aber Lynn zögert nicht. Es wird eine Seite in ihr wach, die sie gut kennt und die sie mag. Lynn ratscht Rollläden hoch, öffnet Fenster, lässt Luft herein und putzt, arbeitet ohne Pause, saugt, wischt, moppt, geht in die Knie, liegt auf dem Boden, steckt Wedel in Ecken, steigt auf Stühle, wischt übers Glas, bringt schaumiges Wasser aus dem Bad ins Wohnzimmer und dreckiges zurück, schleppt Müllsäcke mit toten Pflanzen runter, stopft sie in Tonnen, geht zur Telefonzelle, ruft den Pizzadienst an, vertilgt hungrig die Pizza, lässt sich in den Sessel fallen, zündet Zigarette an, pafft, betrachtet vom Sessel aus ihr Werk.

Sie hat einen Putzfimmel, so viel ist schnell klar. Sie hat eine Mutter, die sie einmal die Woche anruft und mit der sie schon lange nicht mehr richtig reden kann, warum auch immer. Und sie hat Heinz, der offenbar Hotelmanager ist. Jemand, der sie benutzt und den jetzt sie benutzt, denn sie braucht Geld und eine Aufgabe. Ganz sachlich stellt sie fest, heißt es da lakonisch:

Früher oder später wird sie bei Heinz enden, sie wird Heinz aufsuchen müssen, es ist unausweichlich, es lässt sich nicht umgehen, denkt Lynn. Ihr Entschluss steht fest. Sie zerquetscht die Zigarette. Lynn weiß genau, was er will. Sie weiß genau, wie er funktioniert. Springt auf gewisse Sprache an, nur diese paar Worte, die sich mit seiner Phantasie decken. Ist nicht allzu schwer.

Doch meistens ist sie allein: eine eigenwillige junge Frau auf der Suche nach dem, was den anderen scheinbar so gut gelingt und ihr so schwer fällt: das Leben. Ein Glück, dass sie ihren Reinigungszwang professionell ausleben darf. Rasch hat sie einen guten Ruf, kümmert sich buchstäblich um jeden Dreck, bekommt Lob und Trinkgeld. In poetischer Verdichtung schreibt Orths:

Ihr Leben läuft wie am Schnürchen. Lynn steht auf, am Morgen, putzt sich, dann die Hotelzimmer, sie hat den Job bekommen, Heinz hat ihn ihr besorgt, und der Therapeut warf ein Wort in den Raum, das alles enthielt: Konfrontationstherapie. Gutachten, Gespräche, Vertrag, Probezeit, Kündigung schon beim geringsten Vergehen. Vergehen, denkt Lynn. Die Zeit begeht jede Menge Vergehen. Jeder Tag ist ein Vergehen.

Immer länger bleibt Lynn in den Zimmern, und aus vorsichtiger Neugier wird ein immer dreisteres Spiel. Sie stöbert in den Sachen den Gäste, schnuppert an fremden Kleidern und zieht sie auch an. An einem Dienstag kommt ein Gast überraschend zurück. Sie kann nur noch unters Bett flüchten und verbringt die Nacht dort. Von da an tut sie das jeden Dienstag: lauscht auf das, was über ihr geschieht, ist unbekannten Menschen ganz nah und zugleich unendlich fern. Natürlich ist das eine fabelhafte Spielwiese für erotische Phantasien. Und der Autor bedient diese Phantasien nicht nur, er tut dies auf eine unnachahmliche Art auch komisch und damit distanziert. Einmal hat der Mann über Lynn Besuch von einer Prostituierten:

Es geht schnell los. Lynn zittert leicht. Staub wölkt auf. Lynn hält sich die Nase zu, um nicht niesen zu müssen. Man dürfte beim Putzen, denkt sie, auch die Matratzen nicht vernachlässigen. Man müsste, denkt sie, jeden Tag die Matratzen ausklopfen. Mit einem Teppichklopfer. Die Schreie über ihr werden lauter. Lynns linke Hand sucht, tastet, teilt… Finger verschwinden, Lippen werden von Zähnen zum Schweigen gebracht, im Bett ein Toben, auch Lynn stöhnt jetzt, ganz leise.

Als die Frau weg ist und der Mann in der Dusche, schreibt Lynn sich eine Nummer von der Visitenkarte ab, die auf dem Tisch liegt, bevor sie das Zimmer verlässt. Chiara heißt die Frau. Lynn ruft sie an und zahlt – 200 EURO die Stunde, aus der zwei werden, die sie süchtig machen. Natürlich sagt ihr die Frau genau das, was sie hören will, bedient Lynns Phantasien. Ein Zimmermädchen verdient nicht viel, also verkauft Lynn den Laptop, die Anlage, das Auto, um Chiara zu bezahlen. Ihr Leben hat jetzt eine feste Ordnung: Sonntag Arbeit und abends allein, Montag Heinz, Dienstag unterm Bett, Mittwoch frei, Donnerstag Anruf bei Mutter, Freitag Therapeut, Samstag Chiara. Lynn träumt von einem gemeinsamen Urlaub und bleibt gleichgültig, als Heinz ihr den Laufpass gibt. Markus Orths deutet die Katastrophe, die sich anbahnt, nur an, eher beiläufig:

„Da ist was passiert“, sagt Lynn. „Mit mir. Ich hätte nie gedacht, ich meine, wenn du hier bist, dann … Nimm mich in den Arm.“ „Hör zu, ich muss los.“ „Bleib noch länger“. „Ich hab ein Date.“ „Lass es sausen.“ Chiara ist schon angezogen, sie seufzt, schaut auf die Uhr. „Beeil dich“, sagt sie.

Natürlich kommt Chiara nicht mit. Am Ende unterwirft Lynn die Mutter ihrer Obsession. Sie macht einen Besuch, isst Plätzchen, bezieht ihr Kinderzimmer und schleicht unters Bett der alten Frau, die noch vor dem Fernseher sitzt. Konfrontationstherapie? Eine sehr eigene Form von Leben und Nähe? Offene Fragen. Dieses Buch über Einsamkeit, Täuschung, Selbsttäuschung und Enttäuschung ist großartig beobachtet und schön geschrieben: In einer Sprache, die sehr genau dem Leben abgehorcht ist. Spannend, einfühlsam, manchmal witzig oder saftig-erotisch, öfter traurig, atemlos und doch nachdenklich.

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