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Montag, 5. Mai 2008

Psychologisch interessante SF

SWR2 Journal Buchtipp
Peter Watts: „Blindflug“
Heyne Verlag, München, 494 Seiten, 8,95 €.

„Blindflug“ ist ein ungewöhnlicher Roman, den der kanadische Unterwasserbiologe Peter Watts geschrieben hat. Es ist ein preiswerter, dicker Taschenbuch-Schinken aus der Unterhaltungsmaschiene des Heyne-Verlags und auch wissenschaftlich interessant.

Stellen Sie sich vor, rätselhafte Signale vom Rand unseres Sonnensystems erregen bei den Hochposten der NATO den Verdacht, dass da intelligente Lebewesen an der Tür klingeln. Das Raumschiff Theseus erhält den Auftrag, die Quelle der Signale zu erkunden und möglichst Kontakt zu suchen. Stellen Sie sich außerdem vor, die Besatzung besteht nicht aus normalen Menschen. Man hofft, das erhöhe die Fähigkeit, dem absolut Fremdartigen gegenüberzutreten. An Bord sind gentechnisch veränderte und multiple Persönlichkeiten, eine pazifistische Karrieresoldatin und ein Biologe, der Ultraschall hören, Infrarot sehen und Chemikalien schmecken kann. Erzähler der Geschichte ist ein Epileptiker, dem eine Hirnhälfte weg operiert wurde:

Ich bin die Brücke zwischen den Vorreitern der Gesellschaft und dem toten Punkt in ihrer Mitte. Ich stehe zwischen dem Zauberer von Oz und dem Mann hinter dem Vorhang. Ich BIN der Vorhang... Schon immer hat es Menschen gegeben, deren Aufgabe es war, Informationsstrukturen wiederzugeben, bislang waren sie aber nicht dafür zuständig gewesen, sie auch zu deuten. Mit dem neuen Jahrtausend ändert sich das... Offiziell nennt man mich einen Synthesisten. Auf der Straße werde ich auch als Jargonaut oder Poppy bezeichnet. Wissenschaftler, deren mühsam erworbene Erkenntnisse im Auftrag mächtiger Hohlköpfe, die nur an Marktanteilen interessiert sind, durch die Mangel gedreht und verfälscht wurden, bezeichnen mich auch als Spion oder Anstandsdame.

Der Roman „Blindflug“ beschreibt eine Begegnung einander physisch und psychisch völlig fremder Lebensformen. Was die Theseus findet, ist ein fast mondgroßer Himmelskörper aus Chitin und Aminosäuren, mit einer Methanatmosphäre und starken Gewitter-Aktivitäten. Das Ding funkt sie auf Englisch an und nennt sich Rorschach:

HALLO THESEUS: WILLKOMMEN IN DER NACHBAR-SCHAFT. Bitte um Erlaubnis für den Anflug, sendete die Gang. Einfach und direkt: nur Fakten und Daten, die so wenig Raum wie möglich für Zweideutigkeiten und Missverständnisse boten. Sentimentalitäten wie Wir kommen in Frieden konnten warten. Eine Begrüßung war nicht der richtige Augenblick für kulturellen Austausch. BLEIBT LIEBER WEG. IM ERNST. HIER IST ES GEFÄHRLICH. Erbitte Informationen über Gefahr, sendete die Gang zurück. ZU NAH UND GEFÄHRLICH FÜR EUCH. TÖDLICHE UMGEBUNG. GESTEINSBROCKEN UND STRAHLUNG.

Natürlich hört die Besatzung nicht auf solche Warnungen, und der Erstkontakt endet in einer Katastrophe, die nur der Erzähler überlebt und während seiner Flucht im Beiboot aufzeichnet. Rorschach ist ein Habitat für große Mikroben, die den Schlangensternen in irdischen Meeren ähneln und nur kollektiv Intelligenz bilden. Offen bleibt, ob Rorschach ein Nest maschinell hergestellter Lebewesen oder eine biologische Maschine darstellt, ob sie friedlich oder aggressiv ist. Denn die Besatzung der Theseus folgt letztlich doch menschlichen Verhaltensmustern, indem sie, bildlich gesprochen, mit dem Streichholz in den Tank hinein leuchtet.

Peter Watts lebt in Toronto und ist Unterwasserbiologe: eine gute Voraussetzung für das Erfinden von Aliens, denn in der Tiefsee lebt schon genug Fremdartiges. Sein Roman ist aber nicht bloß Erfindung und spannende Unterhaltung, er hat auch einen interessanten wissenschaftlichen Anhang: ausführliche Literaturhinweise über Anatomie, Gentechnik, Hirnforschung, Sinnestäuschungen, Bewusstsein und Kommunikationsforschung. Das Buch fragt nach den Grenzen der Erkenntnisfähigkeit und regt an zum Nachdenken darüber, was Intelligenz überhaupt ist. Wohl deshalb wurde der Autor nominiert für den Hugo Gernsback Preis – für Eingeweihte so etwas wie der Nobelpreis der Science Fiction.

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