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Montag, 18. September 2017

Die entlarvte Lüge vom Heldenleben

Javier Cercas: Der falsche Überlebende. Ein dokumentarischer Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 494 S., 24 €

Der Unterschied zwischen Don Qujote alias Alonso Quijano von Cervantes und Enric Marco, der echten Hauptfigur dieses Romans ohne Fiktion von Javier Cercas, ist relativ einfach: Cervantes hat einen Romanhelfen erfunden, das ganz offen gesagt und einen fiktiven Roman geschrieben. Marco hat sich einen Heldenroman ausgedacht und als sein Leben verkauft.
Doch während Don Quijote, der "Ritter von der traurigen Gestalt", die Welt vom Bösen befreien wollte und gegen Windmühlen kämpfte, am Ende die Realität und sich selbst erkennt, depressiv wird und stirbt, zeigte Marco auch mitten im Skandal keine Reue und wurde weder depressiv noch starb er. Vielmehr versuchte er den Autor zu manipulieren: Cercas sollte eine Verteidigung in Romanform für seinen ewigen Nachruhm schreiben. Er versuchte jahrelang, sich vor diesem Buch zu drücken, schon weil er das ahnte und sich nicht korrumpieren lassen wollte, andererseits auch wusste, dass er hier echt vielen Leuten auf die Füße treten würde: allen, die absichtlich oder aus Faulheit und Dummheit aus unterschiedlichen Motiven Marco gefördert, gestützt und von ihm direkt oder indirekt profitiert hatten.
"Der falsche Überlebende" erzählt die Geschichte des Katalanen Enric Marco, der sich mit einer erfundenen Biographie als Held im Bürgerkrieg gegen Franco und im antifaschistischen Untergrund an die Spitze der größten Anarchistengewerkschaft Spaniens mogelte, als Nazigegner und Naziopfer Vorstand einer einflussreichen Elternvertretung sowie Vorsitzender der Vereinigung ehemaliger spanischer KZ-Insassen wurde. Das personifizierte Gewissen seines Landes in der Erinnerungskultur gegen Nationalsozialismus und Faschismus hatte jedoch nie in einem KZ gesessen.
2005, als ein Historiker das Kartenhaus dieses Betrügerlebens mit großem öffentlichen Getöse zum Einsturz brachte, gab es einen weltweiten Skandal. Denn bis dahin hatte Marco Tausende von Vorträgen an Schulen und in Gemeinden gehalten, im In- und Ausland Interviews gegeben und zahllose Artikel geschrieben, weil er "sich auf allen Zeitungsfotos sehen wollte". Das Irre ist ja: Er hat tatsächlich entscheidend zur Bildung eines Bewusstseins über das historische Unrecht des Faschismus und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Dritten Reich und während der Franco-Diktatur in seinem Land beigetragen. Bloß hat er diese Geschichte als eine eigene ausgegeben. Vielleicht wäre er sogar weitgehend damit durchgekommen, wäre das Thema KZ und Holocaust nicht so heikel - selbst in Spanien.
Nach Francos Tod jedoch besuchte Marco zunehmend Kongresse im In- und Ausland, fuhr etwa ins KZ Flossenbürg und recherchierte genau, was es darüber zu wissen gab und dass dort nur wenige Spanier inhaftiert gewesen waren. Er fälschte eine Eingangsliste des Konzentrationslagers und pflegte enge Kontakte mit seinen "Leidensgenossen". Von denen waren viele tot und die anderen zu gebrechlich, um ihn zur Rede zu stellen. In seiner maßlosen Eitelkeit aber überzog Marco derart, dass echte ehemalige KZ-Häftlinge misstrauisch wurden und ein Historiker schließlich Witterung aufnahm. Dabei liest sich schon das wirkliche Leben des Enric Marco, ohne alle Fiktion, wie ein Abenteuerroman, manchmal auch ein Schelmenroman.
Enric Marco war kein Held, sondern ein Feigling wie fast alle anderen auch. Er war ein kleiner Mechaniker und Anarchist, aber auch ein begnadeter Blender und Schauspieler mit einem Schlag bei Frauen, der durch fleißige Arbeit, rhetorisches Geschick und entschlossenen, absolut moralfreien  Betrug Karriere machte. 1921 wurde er in einer Irrenanstalt geboren, weil seine Mutter die Trennung von ihrem Mann nicht verkraftete, der sie misshandelt hatte. Danach wurde der Junge in den Familien von Tanten lieblos durchgefüttert und herumgereicht. Bei einer dieser Tanten kam er durch einen ewig besoffenen Onkel, der Drucker war, in Anarchistenkreise und lernte alles zu lesen, was ihm in die Finger kam. Mit 17 Jahren meldete er sich freiwillig zu einem der Anarchistenbatallione, die zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs seine Heimatstadt Barcelona rasch von den faschistischen Putschisten befreiten. An der Ebro-Front lernte er sogar flüchtig einen legendären Kommandanten kennen. Da hätte noch ein Heldernroman draus werden können.
Weil er zu den Verlierern des Krieges gehörte und weder Geld hatte noch weg wollte, verkroch er sich aber unter Frauenröcken. Er versteckte sich traumatisiert und gedemütigt bei seiner Tante, wo er seine erste Frau kennen lernte. Wie allen waffenfähigen Genossen drohte ihm ein dreijähriger Militärdienst, der für Francos Offiziere eine willkommene Gelegenheit war, ihre einstigen Gegner zu schikanieren und zu drangsalieren. Um der Registrierung zu entgehen, ließ er sich frisch verheiratet freiwillig für die deutsche Kriegsindustrie für die Arbeit an einer Kieler Werft anwerben. Dort hing er viel mit Anarchisten herum und wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im KZ hat er nie gesessen. Aber er lernte die Gesinnungsjustiz der Nazis und deren Knast kennen.
Als sich abzeichnete, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, fuhr er auf Urlaub nach Barcelona und blieb einfach. Als das Falangisten-Militär das erfuhr und ihn wegen Fahnenflucht suchte, verließ er von heute auf morgen seine Frau mit zwei kleinen Kindern, fand in einer anderen Stadt durch einen alten Kumpel Arbeit in dessen Kfz-Werkstatt, änderte seinen Namen und lernte bald seine zweite Frau kennen. Mit eindrucksvollem Fleiß schuf er die Basis für eine Teilhaberschaft und lernte seine zweite Frau kennen. Dieses Verfahren hat er noch mindestens zwei Mal durchgezogen: den Namen, die Stadt und die Frau zu wechseln, wenn ihm der Boden zu heiß wurde.
Beim nächsten Mal, nach Francos Tod, war er durch seine Kontakte Vertreter für Kfz-Ersatzteile geworden, hatte gut verdient, als Reisender aber auch ein unsolides Leben kennen gelernt und wegen einer Frau Schulden gemacht. Er fing an, Ersatzteile auf eigene Rechnung zu verkaufen, und als die Polizei ihn suchte, kam die zweite große Rochade. Nun ging er in den Autohandel, machte wieder viel Geld, und lernte eine Frau aus Andalusien kennen, deren Familie ihn anhimmelte und ihm half, Gewerkschaftsboss zu werden, obwohl er keine Gewerkschaftserfahrung hatte. Nützlich dabei war, dass die alten Hasen im Exil gewesen waren und ihn nicht kannten, während die Jungen an seinen Lippen hingen, wenn er von seinen Heldentaten im Bürgerkrieg und als antifaschistischer Untergrundkämpfer gegen Hitler und Franco erzählte. Es waren häufig Studenten, die ihn bei der Karriere unterstützten und für einen Intellektuellen hielten.
Als die Flügelkämpfe zwischen diesen beiden Gruppen die Gewerkschaft ruinierten, fand Marco Ersatzbefriedigung im Vorstand einer einflussreichen linken Eltervereinigung und fing mit seinen Vorträgen an. Als die ebenfalls wegen interner Streitigkeiten unwichtig wurde, kam er auf die Idee mit der Vereinigung ehemaliger spanischer KZ-Häftlinge. Die konnte einen Redner und "Kenner" wie ihn bestens gebrauchen, und so legte er auch hier einen Blitztsart hin: Neuer Job, neue Frau (die dritte war eine französische Intellektuelle, die ihn bewunderte und unterstützte), leicht geänderter Name, Ortswechsel zurück nach Barcelona. Jetzt war unser Held auf dem Trip als Erinnerungsheld und KZ-Opfer. Bald war eine angesehene Persönlichkeit des öffentlichen Interesses und weithin anangreifbar. Bis zum Knall. Wäre das alles nötig gewesen? In der Sache nicht, aber in der Psychologie eines solchen Menschen schon. Lebenslügen sind ja so selten nicht.
Der Autor Javier Cercas hat bereits Aufsehen erregt mit dem dokumentarischen Roman "Anatomie eines Augenblicks", der den Guardia-Civil-Oberstleutnant Tejero porträtiert. 1981 besetzte der als Speerspitze eines Putsches revanchistischer Generäle das Parlament in Madrid. Ältere Zeitgenossen werden sich an die komische Figur mit Schnauzer und antiquiertem Dreispitz erinnern, die dort herumbrüllte und aus der Dienstpistole ein paarmal in die Decke schoss.
Den Vereinnahmungsversuchen Marcos entzog sich der Autor durch das penible Erzählen seiner Ermittlungen inklusive der Ausweichmanöver Marcos und einen wahren Interview-Marathon, der es ihm trotz aller kritischen Distanz ermöglichte, das Vertrauen des falschen Helden zu erwerben. Außerdem reflektiert Cercas immer wieder seine und Marcos Motive, aber auch die moralischen Dimensionen des Schreibens über so eine Lebenslüge. Das schafft Spannung, Glaubwürdigkeit und psychologische Tiefe zugleich.
Spätestens hier wird deutlich, wie viel von Enric Marco in uns allen steckt. Wer hat nicht schon einmal kleine, nützliche Schönheitskorrekturen an der eigenen Biographie versucht oder ein Profilbild aufgehübscht? Sogar unsere Wirtschaft - bis hin zu Universitäten, öffentlich-rechtlichen Medien und Behörden, ist ja inzwischen schon gesetzlich gesetzlich verpflichtet, nur gute oder geschönte Zeugnisse auszustellen. Dem Zwang, dem Grundsatz "mehr Schein als Sein" zu folgen, kann sich fast niemand mehr entziehen. Gerade wir Deutschen feiern uns gern Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung, aber jetzt wird uns dieser Titel von einem Spanier streitig gemacht. Hierzulande hat jedenfalls noch niemand solche Bücher geschrieben. Chapeau!

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