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Dienstag, 15. August 2017

Großes Finale eines genialen Romanzyklus

Carlos Ruiz Zafón: Das Labyrinth der Lichter, Roman. S. Fischer Verlag Frankfurt a.M., 945 S., 25 €

Er begann als Autor von Schauerromanen und hat in der Zunft den Ruf eines genialen Arschlochs, was auch immer das heißen mag. Carlos Ruiz Zafón hat jedenfalls in den Romanen seines Barcelona-Zyklus mit "Der Schatten des Windes", "Das Spiel des Engels" und "Der Gefangene des Himmels" sowie "Marina" gezeigt, dass er ein Dichter von sehr hohem Niveau ist. Alle seine Bücher wurden Bestseller (was nichts mit der Qualität eines Autors zu tun hat), aber alle haben nicht nur das Publikum, sondern auch die Kritiker begeistert (was ziemlich viel mit der Qualität eines Autors zu tun hat). Mit dem Roman "Das Labyrinth der Lichter" legt Zafón jetzt das große Finale dieses genialen Zyklus vor: Fast 1000 Seiten dick und doch keine einzige davon langweilig. Wo andere vielleicht Zeilen schinden oder sich geschwätzig in den Wirren eines komplexen Plots verlieren, fällt diesem Autor immer noch etwas ein, um die Spannung zu steigern. Überraschungen sind sein Metier ebenso wie seine Heimatstadt Stadt Barcelona. Da sollte man meinen, man kennt das Zubehör und Überraschungen seien nicht mehr wahrscheinlich. Weit gefehlt! Man mag ja auch die Zutaten eines guten Kochs auf dem Markt schon lange kennen und vielleicht auch selbst einkaufen. Aber das macht halt allein noch keinen guten Koch. Der wird man erst durch gute Rezepte und geniale Ausführung. Was zu begründen wäre:
Das Konzept ist eine furiose Mischung aus Gruselgeschichte, Polit-Thriller und historischem Roman über die Leiden einer Buchhändlerfamilie im spanischen Bürgerkrieg, in der Francodiktatur und in der Zeit danach. Da hat nämlich ein Teufelspakt zwischen Nationalisten und Sozialisten in Madrid dafür gesorgt, dass die Mörder nicht nur ungeschoren davonkamen, sondern auch nahezu unbehelligt weitermachen konnten. Die Zeit nach Franco war in vieler Hinsicht eine Zeit der Beutesicherung für die Sieger: Zu Unrecht erlangte Posten, geraubte Vermögen, erseilschaftete politische Macht in Behörden, Banken, Baukonzernen, Kunst- und Kulturbetrieb wurden mit Methoden des organisierten Verbrechens und politisch gedeckter Vertuschung nachhaltig zementiert und immunisiert gegen juristische Verfolgung. Vergangenheitsbewältigung? - Fehlanzeige in der spanischen Realität. In der Literatur muss man aber neben das Werk des leider 2015 verstorbenen Rafael Chirbes inzwischen einen zweiten Namen stellen: Zafón. Beide lassen nicht locker, haben sich regelrecht verbissen in einen gesellschaftlichen und historischen Skandal, der wirklich mehr als nur einen spannenden Plot hergibt. Dennoch muss man diese wüste Stoffmenge erst einmal sammeln, sichten, sortieren und bewältigen. Zafón meistert diese Mammutaufgabe souverän.
Hier, in diesem mutmaßlich letzten Roman des Zyklus, verschwindet ein "begnadeter" Kulturminister spurlos, der sich im Lauf detektivischer Recherchen als Massenmörder, Folterknecht, Titelbetrüger und Dieb entpuppt, der auch noch mit gefälschten Staatspapieren handelte, um das Maß voll zu machen. Seine Opfer haben ihn erst entführt und sich dann grausam gerächt, was perfekt ins Konzept einer intriganten Grauen Eminenz passt, die einen lästigen Mitwisser entsorgt sehen will, der einfach zu viel Mist gebaut hat. Sie missbraucht Geheimdienstler und Kripo als Marionetten, wie das nur Politiker können. Irgendwann kippt halt eine Lebensvesicherung, die darin besteht, mit mächtigen Leuten buchstäblich viele gemeinsame Leichen im Keller zu haben, ins Risiko.

Dann die Charaktere: Von Bösewichten und Opfern bis zu heldenhaft beharrlichen, aber keineswegs eindimensionalen Ermittlern mit menschlichen Schwächen zeichnet Zafón glaubwürdige Figuren und stattet sie mit dem historisch korrekten Outfit, dem nachvollziehbaren Auftreten und einer passenden Sprache aus. Sie spielen sorgfältig ausdifferenzierte Rollen und reden so, wie man halt in so einer Rolle nur allzu oft redet. Manchmal sehr sachlich, lakonisch und knapp. Auch komisch und durchaus witzig. Manchmal satirisch oder salbadernd und eitel, manchmal hochgestochen und saudumm politisch, an den richtigen Stellen naiv oder arrogant, brutal oder verletzlich, je nach Standpunkt auch sarkastisch oder zynisch. Zafon behherrscht diese Tonarten alle, und das brillant. Wo er dabei seine Sympathien hat, ist letztlich wurscht. Das Buch ist ein fulminantes Sprachkunstwerk, das eine ganze Gesellschaft allein mit erzählerischen Mitteln im Kopf entstehen lässt. Das alles in der Übersetzung nachzuvollziehen, ist ein großes Verdienst des Nachdichters Peter Schwaar.
Die Gabe des Erfindens: Zafón nutzt nicht nur historische Steilpässe fürs Fabulieren, sondern hat mit seinen Ausflügen in das unterirdische Barcelona und den grandiosen, labyrinthischen "Friedhof der vergessenen Bücher Schauplätze einer psycholgisch dichten Atmosphäre geschaffen, die denen des real existierenden Barcelona mit seinen Spelunken und Cafés, seinen historischen Villen an den Hängen des Montjuic und den Folterkellern der Geheimpolizei in nichts nachstehen. Eine nette Klammer, die alle Romane in diesem Zyklus verbindet und nur hier aufgelöst wird: Den Wächter dieses Friedhofs der vergessenen Bücher stellt traditionell ein Mitglied der Buchhändlerfamilie Sempére. Mittendrin natürlich immer schöne Frauen und herzzerreißende Geschichten von Liebe, Betrug, Abhängigkeit, Genie und Wahnsinn, in denen die beteiligten Männer eher unglücklich bis ahnungslos agieren.


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