„Das Lateinamerika
Lexikon“, herausgegeben von Silke Hensel und Barbara Potthast,
Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 368
Seiten, 24,00 €.
Ein
Papst aus Argentinien, eine Fußballweltmeisterschaft in Brasilien
und ein Drogenkrieg in Mexiko mit Zig-Tausend Toten lenken gerade
alle Blicke auf Lateinamerika. Die Zerstörung der Regenwälder, die
Ausbeutung der Bodenschätze durch Ausländer und Militärdiktaturen
haben auch vorher Schlagzeilen ge-macht. Aber es hat sich einiges
geändert. Da kommt das Lateinamerika-Lexikon gerade recht.
Die
Rolle der United Fruit Company in den sprich-wörtlichen
Bananenrepubliken hat jetzt Monsanto mit seinen Soja-Monokulturen
übernommen. Bergwerke in Peru, Bolivien und Chile gehören nicht
mehr US-Konzernen, sondern sind international oder wurden wie
Venezuelas Erdöl verstaatlicht. Nicht dass der alte Rassismus schon
tot wäre; aber die Ureinwohner treten selbstbewusster auf. Sie
stellen Präsidenten und stiften nationale Identitäten durch Kultur.
Aus
Dreck und Armut sind moderne Großstädte gewachsen, die
Korruptionsstatistik führen jetzt andere an. Nach 300 Jahren
Kolonialgeschichte und 200 Jahren Zwitterexistenz zwischen
Großgrundbesitzer-Oligarchie und autoritärer Demokratie wird der
Kontinent erwachsen. Lateinamerika braucht ein Update zum
Nachschlagen: eben das Lateinamerika-Lexikon. Der Peter Hammer Verlag
ist dafür ideal; dort erscheinen seit Jahrzehnten viele Bücher aus
und über Lateinamerika. Die Herausgeberinnen zum Konzept:
„Das
Lateinamerika-Lexikon ist als Nachschlagewerk zur Orientierung all
derjenigen konzipiert, die einen kompakten Überblick über
kulturelle, politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen
mit historischer Tiefendimension erhalten möchten. 20 Länderartikel
werden begleitet von Grundbegriffen und Konzepten, die für die
Region zentral sind und teilweise aus Lateinamerika stammen.“
Das
sind Begriffe wie „Afroamerikanische Religionen“ oder
„Altamerikanische Kulturen“ als Sammelname für die Völker der
Pueblo-, Azteken- oder Inka-Kultur. Vom ersten Stichwort -
„Afroamerikaner“ - bis zum letzten - „Zivilgesellschaft“ -
ist ein Denken in Zusammenhängen erkennbar. Die Zwangsmigration von
Millionen Sklaven aus Afrika hat zuerst in Lateinamerika ein buntes
Völkergemisch erzeugt, das wir heute als Folge der Globalisierung
weltweit beobachten. Die Sklaverei verursachte aber auch historische
Traumata und spezielle Wirtschafts- und Kulturformen, etwa
Großplantagen oder Vodoo. All diese Besonderheiten werden wie die
Staaten in alphabetisch geordneten Artikeln gründlich und allgemein
verständlich abgehandelt. Ein Beispiel dafür ist die Beschreibung
der politischen Gegenspieler von Militär und Parteien aus dem
Argentinien-Artikel. Sie zeigt komplexe Muster:
„Dazu
zählen unter anderem kirchliche Organisa-tionen, die stark mit dem
Peronismus verbundenen Gewerkschaften, die mächtigen
Interessenverbände der Finanzen, der Industrie und des Agrar-sektors
sowie die Medien. Unter den sozialen Bewegungen sind vor allem die
Menschenrechtsorganisationen zu nennen, allen voran die Mütter der
Plaza de Mayo, die in der dunkelsten Zeit der Diktatur wagten, die
Miss-stände öffentlich anzuprangern.“
Argentinien
ist das größte spanischsprachige Land der Welt und das zweitgrößte
Land Lateinamerikas. Es weist mit einer Länge von 3604 Kilometern
und einer größten Breite von 1423 Kilometern schon geographisch
und klimatisch enorme Unterschiede auf. Subtropischer Hitze am Rio
de la Plata stehen das endlose Grasland der Pampas, die Gletscher
Feuerlands und der fast 7000 Meter hohe Andengipfel des Aconcagua
gegenüber. Hier - Buenos Aires: Zentrum für Industrie, Handel,
Kultur und Verwaltung mit über 15 Millionen Menschen. Da - eine
unendliche, fast menschenleere Einsamkeit, in der auch die deutschen
Sektierer und Kinderschänder der Colonia Dignidad Jahrzehnte lang
unbehelligt bleiben konnten.
Unter
jedem Artikel stehen wichtige wissenschaftliche Quellen. Das Lexikon
ist interdisziplinär ausgerichtet, gedacht für Studierende und
Fachleute wie Beamte, Entwicklungshelfer und Mitarbeiter
internationaler Kon-zerne. Zur Zielgruppe gehören aber auch Urlauber
oder interessierte Menschen. Wer zum Beispiel ein-fach wissen möchte,
warum die Opfer des Erdbebens von 2010 auf Haiti trotz
internationaler Milliardenhilfe bis heute in Zelten hausen, ist hier
genau richtig. Denn das Ganze ist aktueller als der BROCKHAUS und
gründlicher bearbeitet als die meisten Einträge bei WIKIPEDIA.
Den
Anstoß für das Lexikon gab die Landeszentrale für Politische
Bildung in Nordrheinwestfalen. Sie schuf mit dem Verlag und den
Herausgeberinnen von den Universitäten Köln und Münster ein
dichtes Netz von Autoren, Übersetzern, Redakteuren und Beratern. Die
sitzen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Lateinamerika, den
USA und im europäischen Ausland. Das Ergebnis ist bemerkenswert
homogen auf einem gleichbleibend hohen Niveau.
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