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Dienstag, 24. Juni 2014

Passend zur WM: Lateinamerika plus im Lexikon

Das Lateinamerika Lexikon“, herausgegeben von Silke Hensel und Barbara Potthast, Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 368 Seiten, 24,00 €.

Ein Papst aus Argentinien, eine Fußballweltmeisterschaft in Brasilien und ein Drogenkrieg in Mexiko mit Zig-Tausend Toten lenken gerade alle Blicke auf Lateinamerika. Die Zerstörung der Regenwälder, die Ausbeutung der Bodenschätze durch Ausländer und Militärdiktaturen haben auch vorher Schlagzeilen ge-macht. Aber es hat sich einiges geändert. Da kommt das Lateinamerika-Lexikon gerade recht.
Die Rolle der United Fruit Company in den sprich-wörtlichen Bananenrepubliken hat jetzt Monsanto mit seinen Soja-Monokulturen übernommen. Bergwerke in Peru, Bolivien und Chile gehören nicht mehr US-Konzernen, sondern sind international oder wurden wie Venezuelas Erdöl verstaatlicht. Nicht dass der alte Rassismus schon tot wäre; aber die Ureinwohner treten selbstbewusster auf. Sie stellen Präsidenten und stiften nationale Identitäten durch Kultur.
Aus Dreck und Armut sind moderne Großstädte gewachsen, die Korruptionsstatistik führen jetzt andere an. Nach 300 Jahren Kolonialgeschichte und 200 Jahren Zwitterexistenz zwischen Großgrundbesitzer-Oligarchie und autoritärer Demokratie wird der Kontinent erwachsen. Lateinamerika braucht ein Update zum Nachschlagen: eben das Lateinamerika-Lexikon. Der Peter Hammer Verlag ist dafür ideal; dort erscheinen seit Jahrzehnten viele Bücher aus und über Lateinamerika. Die Herausgeberinnen zum Konzept:

Das Lateinamerika-Lexikon ist als Nachschlagewerk zur Orientierung all derjenigen konzipiert, die einen kompakten Überblick über kulturelle, politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen mit historischer Tiefendimension erhalten möchten. 20 Länderartikel werden begleitet von Grundbegriffen und Konzepten, die für die Region zentral sind und teilweise aus Lateinamerika stammen.“
Das sind Begriffe wie „Afroamerikanische Religionen“ oder „Altamerikanische Kulturen“ als Sammelname für die Völker der Pueblo-, Azteken- oder Inka-Kultur. Vom ersten Stichwort - „Afroamerikaner“ - bis zum letzten - „Zivilgesellschaft“ - ist ein Denken in Zusammenhängen erkennbar. Die Zwangsmigration von Millionen Sklaven aus Afrika hat zuerst in Lateinamerika ein buntes Völkergemisch erzeugt, das wir heute als Folge der Globalisierung weltweit beobachten. Die Sklaverei verursachte aber auch historische Traumata und spezielle Wirtschafts- und Kulturformen, etwa Großplantagen oder Vodoo. All diese Besonderheiten werden wie die Staaten in alphabetisch geordneten Artikeln gründlich und allgemein verständlich abgehandelt. Ein Beispiel dafür ist die Beschreibung der politischen Gegenspieler von Militär und Parteien aus dem Argentinien-Artikel. Sie zeigt komplexe Muster:

Dazu zählen unter anderem kirchliche Organisa-tionen, die stark mit dem Peronismus verbundenen Gewerkschaften, die mächtigen Interessenverbände der Finanzen, der Industrie und des Agrar-sektors sowie die Medien. Unter den sozialen Bewegungen sind vor allem die Menschenrechtsorganisationen zu nennen, allen voran die Mütter der Plaza de Mayo, die in der dunkelsten Zeit der Diktatur wagten, die Miss-stände öffentlich anzuprangern.“

Argentinien ist das größte spanischsprachige Land der Welt und das zweitgrößte Land Lateinamerikas. Es weist mit einer Länge von 3604 Kilometern und einer größten Breite von 1423 Kilometern schon geographisch und klimatisch enorme Unterschiede auf. Subtropischer Hitze am Rio de la Plata stehen das endlose Grasland der Pampas, die Gletscher Feuerlands und der fast 7000 Meter hohe Andengipfel des Aconcagua gegenüber. Hier - Buenos Aires: Zentrum für Industrie, Handel, Kultur und Verwaltung mit über 15 Millionen Menschen. Da - eine unendliche, fast menschenleere Einsamkeit, in der auch die deutschen Sektierer und Kinderschänder der Colonia Dignidad Jahrzehnte lang unbehelligt bleiben konnten.

Unter jedem Artikel stehen wichtige wissenschaftliche Quellen. Das Lexikon ist interdisziplinär ausgerichtet, gedacht für Studierende und Fachleute wie Beamte, Entwicklungshelfer und Mitarbeiter internationaler Kon-zerne. Zur Zielgruppe gehören aber auch Urlauber oder interessierte Menschen. Wer zum Beispiel ein-fach wissen möchte, warum die Opfer des Erdbebens von 2010 auf Haiti trotz internationaler Milliardenhilfe bis heute in Zelten hausen, ist hier genau richtig. Denn das Ganze ist aktueller als der BROCKHAUS und gründlicher bearbeitet als die meisten Einträge bei WIKIPEDIA.

Den Anstoß für das Lexikon gab die Landeszentrale für Politische Bildung in Nordrheinwestfalen. Sie schuf mit dem Verlag und den Herausgeberinnen von den Universitäten Köln und Münster ein dichtes Netz von Autoren, Übersetzern, Redakteuren und Beratern. Die sitzen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Lateinamerika, den USA und im europäischen Ausland. Das Ergebnis ist bemerkenswert homogen auf einem gleichbleibend hohen Niveau.

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