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Dienstag, 24. September 2013

Leben mit dem Trauma: ein anspruchsvoller Debüt-Roman

Hanna-Laura Noack: Strom des Himmels. Verlag André Thiele, Mainz, 412 Seiten, 19,90 €


Hanna-Laura Noack ist gelernte Psychotherapeutin und hat mit "Strom des Himmels" ihren ersten  Roman vorgelegt. Der Titel ist ein Bild für ziehende Wolken und Metapher des Lebens schlechthin. Er ist inspiriert von japanischen Tuschezeichnungen, durchzogen von den Fachkenntnissen und dem Blick einer reifen, berufstätigen Frau aufs Leben, ein Erstling in dieser großen literarischen Form zwar, aber weder naiv noch auf andere Weise "unschuldig": ein Buch voller Lebenserfahrung mit dem Trauma, ein Buch vom Entdecken der eigenen Identität und von der niemals konfliktfreien Begegnung zweier unterschiedlicher Kulturen, die sich doch gegenseitig nicht nur schockieren, sondern vor allem bereichern.
Der Plot entwickelt sich erst verhalten und dann mit dramatischer Wucht: Alice, 32 Jahre alt, freie Therapeutin und Mitarbeiterin einer schwächelnden Fachzeitschrift, eine selbstbewusste, berufspolitisch engagierte Frau, fliegt 1978 für einen Bericht über die "Kinder von Hiroshima" nach Japan. 35 Jahre nach dem Atombombenabwurf will sie das Schicksal der Zivilisten erkunden, die lange Zeit ohne staatliche Hilfe und angemessene medizinische Versorgung mit den Folgen der Verstrahlung und dem Trauma des Massensterbens überleben mussten. Wie der Umgang mit der Katastrophe von Fukushima zeigt, sind politische Eliten, der staatliche Energiekonzern Tepko und die japanische Bürokratie bis heute nicht in der Lage zu einem wirklich offenen, effizienten und menschlichen Umgang mit den Folgen großflächiger Verstrahlung. Alice sticht bei ihren Recherchen promt in diverse Wespennester.
Parallel dazu erzählt ein zweiter Handlungsstrang die tragische Liebesgeschichte eines Japaners und einer Deutschen in den Jahren 1945 und 1946. Im zerstörten Hiroshima lernen sich der junge Pressefotograf Tadashi Yamamoto und die deutsche Krankenschwester Teresa kennen und lieben - beide vom Krieg traumatisiert und voller Verachtung für die ideologische Verblendung, die ihn verursacht hat. Teresa ist die Mutter von Alice, deren eigentliches Motiv für die Reise darin besteht, ein versäumtes Gespräch mit der Mutter über diese Vergangenheit nachzuholen. Teresa ging als Rotkreuzhelferin nach Hiroshima, um dem reaktionären Vater und der Trauer über ihren gefallenen ersten Mann im zerstörten Deutschland zu entfliehen. Tadashi hat sich beim Fotografieren der Atombombenopfer verstrahlt und fürchtet, die Liebe seines Lebens mit einem genetisch geschädigten Kind unglücklich zu machen.
Die Eltern von Alice sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, bevor Aufklärung darüber möglich war, warum Teresa zeitlebens eine der Tochter unerklärliche Verehrung für einen Japaner gefühlt hat. Der hat sich später als Chefredakteur der Hiroshima Post für Menschlichkeit gegenüber ausgrenzten Wanderarbeitern, Frauen und Kindern von Hiroshima eingesetzt und mit der korrupten Regierung angelegt. Japan ist weit weg für eine Deutsche im Jahr 1978; doch die Einladung einer ehemaligen Patientin nach Tokio und die Urlaubsbekanntschaft mit einer japanischen Oberschichtfamilie, deren Sohn die erfahrene Taucherin bei einem Bootsausflug auf den Malediven vor dem Ertrinken rettet, ebnen den Weg.
Plötzlich ist Alice in einem merkwürdigen Wunderland, wo allein reisende Frauen wie ein neues Weltwunder bestaunt werden und wo unglaubliche Gastlichkeit neben krassestem Chauvinismus der Konservativen gegenüber Frauen und Ausländern zu finden ist. Sie wird weitergereicht und bekommt immer neue Kontakte. Sie lernt etwas Japanisch, macht unglaubliche Erfahrungen mit dem Essen, dem "Verlieren des Gesichts", dem Einkaufs- und Komsumwahn japanischer Großstädte, aber auch der feinsinnigen Kultur Japans. Besonders reizvoll: Der Kontrast zwischen der Reise in die Vergangenheit ihrer Mutter mit deren japanischem Liebhaber und der Reise in eine immer noch reichlich fremdartige Gegenwart mit Shikansen-Zügen, Touristenhotels und traditionellen Gasthäusern. Sie trifft Ärzte und kann Überlebende von Hiroshima interviewen. Sie lernt sogar ihren späteren Mann kennen; also noch eine moderne Liebesgeschichte mit einigen sehr sinnlichen Szenen von saftiger Erotik. Dem Leser ist wirklich einiges geboten.
Sprachlich sind vor allem die lebendigen Beschreibungen von Menschen, Landschaften und Szenen ein Genuss, die Ausländer in Japan erwarten. Das Buch ist aber ein Roman und kein Handbuch japanischer Sitten und Unsitten; da darf man ruhig ab und zu schmunzeln und staunen.Nicht immer stilsicher und manchmal umständlich geht die Autorin mit Reflexionen und historischen Einschüben um. Wo sie über Männer, Historie, ihren Beruf und japanische Traditionen räsonniert, schwankt der Ton zwischen amüsiert und etwas zu sehr therapeutisch. Wunderbar, wie die 17jährige, pubertierende Alice den Wunsch der Mutter abschmettert, über ihre Vergangenheit mit Tadashi Yamamoto zu reden: "Auf einmal? Als Kind durfte ich das Wort Tadashi nicht einmal aussprechen. Ein Handtuch hast du nach mir geworfen!... Deine Liebhaber interessieren mich nicht die Bohne!"
Doch nach dem türenschlagenden Abgang der Tochter lässt sie´s nicht gut sein, sondern hängt gebildet dozierend dran: "Eine kurzsichtige, verbockte Elektra, die sich leidend ihrem unkontrollierten Eigensinn hingab. Sie war weder bereit, die Gefühle ihrer Mutter wahrzunehmen noch auf  sie einzugehen". Doch das sind eigentlich Belanglosigkeiten; ein besseres Lektorat hätte so etwas ausgemerzt. Die Spannung über 400 Seiten zu halten, gelingt Noack mühelos trotz solcher Passagen. Denn immer passiert etwas, immer wieder wird der Leser mit überraschenden Wendungen und Einfällen konfroniert, die seine Neugier wieder anstacheln
Da ist der Stil journalistisch. Poetisch wird er bei Begegnungen mit dem Leid. Hier spürt man jedes Mal: Das Leben mit dem Trauma und trotz des Traumas ist so etwas wie Noacks Kernkompetenz. Dafür hat sie feine Antennen, dafür findet sie immer die richtigen Worte. Wer die Sprache des Beobachters und der Erotik beherrscht, muss nicht auch die Sprache der Traumatisierten sprechen. Noacks feinfühlige Distanz macht auch Szenen des reinen Horrors erträglich - etwa wenn Yamamotos Schwester erzählt, wie ihr Bruder ihr von den Gräueln der japanischen Armee berichtet hat, mit der er während des Krieges in Nanking war. Erschütterung, ja auch Wut findet ihren Ausdruck, z.B. wenn Alice auf die Presseclubs stößt. Sie fragt Yamamotos Schwester danach, weil ihr Bruder dort austrat, um frei berichten zu können, bevor er unter nie ganz geklärten Umständen starb.
Die pensionierte Lehrerin: "Hier bei uns stand er allein damit. Ausschließlich Journalisten der Presseclubs gelangen an bestimmte Informationen, die sonst niemandem zugänglich sind und strengster Geheimhaltung unterliegen". So wird gezielt verhindert, dass Nachrichten über Japan ungewollt ins Ausland kommen - es sei denn, ein Atomkraftwerk explodiert zufällig vor laufenden CNN-Kameras. Dieses Buch lehrt: Japan ist anders als die Mainstream-Regionen des globalen Tourismus. Da weist Noacks Romandebüt weit über das Jahr 1978 hinaus ins 21. Jahrhundert und ist hoch aktuell.
Am Ende ist "Strom des Himmels" aber vor allem der Roman einer therapeutischen Reise ins Zentrum des eigenen Ich. Man muss keinen japanischen Helden zum Vater haben, aber es tut gut und befreit, keine losen Enden in der eigenen Biographie zu dulden. Das alles so spannend und unterhaltsam zu erzählen, macht das Buch zu einem lebendigen Stück aufklärender Literatur. Erfrischend, wie diese Autorin an dem deutschen Dogma rüttelt, dass ernste, ja schwierige Literatur nicht unterhaltend sein dürfe.

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