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Donnerstag, 29. August 2013

Musik hilft versöhnen: Das West-Eastern Divan Orchestra

Auftakt zum Musikfest Stuttgart mit Daniel Barenboim

Das Musikfest Stuttgart der Internationalen Bachakademie hatte am 22. August in der Liederhalle eine fulminante, sehr emotionale Eröffnung mit Daniel Barenboim und seinem East Western Divan Orchestra. Angesichts der Vorgänge im Nahen Osten war das ein wunderbares Beispiel dafür, was möglich ist, wenn unterschiedliche Menschen friedlich zusammen arbeiten: große Kunst! In diesem Orchester spielen junge Musikker aus Israel, Palästina und anderen Ländern des Nahen Ostens zusammen. Und sie vereint kulturell mehr, als sie politisch trennt. OIhne falsches Pathos spielten sie Verdi, Wagner (in Israels Staatsrundfunk noch immer ein Tabu wegen der antisemitischen Haltung des Komponisten) sowie Neue Musik von Saed Haddad, einem libanesischen Christen, und der jungen Jüdin Chaya Czernowin. Die Zugabe: Das Vorspiel zum 3. Akt der "Meistersinger". Der Beifall war riesengroß. Standing Ovations sowohk für das Orchester als auch den chariamatischen Dirigenten.
Die unnötigen Umbauten durch die Platzierung der musikalischen Experimente jeweils zwischen den Vorspielen zur "Sizilianischen Vesper", "La Traviata" und "Die Macht des Schicksals" von Giuseppe Verdi einerseits und Wagners "Parsifal" und "Die Meistersinger" andererseits war unnötig wie ein Kropf. Aber sonst war der Abend wunderbar! Bleibt zu hoffen, dass der neue Intendant Gernot Rehrl weiter so einen guten Riecher für die richtigen Gäste beweist und dass der neue Akademiechef Hans-Christoph Rademann die großen Fußstapfen von Helmuth Rilling ausfüllen kann.

Freitag, 9. August 2013

Eine Wende im Islam: Kein Gottesrecht gegen Menschenrechte

SWR 2 Buchkritik (Sachbuch) Katajun Amirpur:
Den Islam neu denken – Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“.Verlag C.H. Beck München, 256 Seiten, 14,95 €

Viele islamischen Gesellschaften haben ein Problem mit Gleichberechtigung, Demokratie und Menschen-, vor allem Frauenrechten. Doch nicht der Islam hat den Anschluss an Moderne und Aufklärung verpasst, sondern privilgierte Gruppen islamischer Geistlicher, die seit 1000 Jahren eine primitive Lesart des Korans vertreten. Ihr Deutungsmonopol ist verantwortlich für Frauenfeindlichkeit und ein rückständiges Gottesbild, das nur ihnen nützt. Katajun Amirpur, Professorin für islamische Studien an der Universität Hamburg, hat jetzt ein überfälliges Buch vorgelegt: „Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“. Ihre Systemkritik kommt von innen.

Im Zentrum steht der Koran selbst. Dieser ist als der Referenztext der islamischen Kultur das einzige, worüber sich alle Muslime einig sind, was man beispielsweise über die Auslegungen nicht sagen kann. Deswegen sind die hier vorgestellten Denker der Auffassung, dass jede Reform ihren Ausgang am Koran nehmen muss. Ohne eine koranische Legitimation hat sie keine Aussicht auf Erfolg.“

Die Autorin zeigt, dass die Vielfalt der Koranauslegun-gen immer ein Wesensmerkmal der islamischen Theologiegeschichte war. Sie lenkt aber vor allem die Aufmerksamkeit auf islamische Reformer von heute. Zum Beispiel zeigen die Auseinandersetzungen mit Salafisten und Muslimbrüdern in Ägypten seit dem „arabischen Frühling“: Innerhalb der islamischen Welt tobt ein Kulturkampf, und wir haben die Chance, die Modernisierer zu unterstützen. Einer davon ist der iranische Wissenschaftler und Theologe Abdolkarim Soroush. Er lebt seit über zehn Jahren in London, weil er den Mullahs unangenehme Wahrheiten wie diese predigte:

"Freie Gesellschaften, ob religiös oder areligiös, sind göttlich [d.h. mit Gottes Willen im Einklang] und menschlich; in totalitären Gesellschaften aber bleibt weder die Menschlichkeit noch die Gottheit übrig".

Amirpur stellt brillante Analysen des Korans durch die wichtigsten Denker eines Reformislam vor, der viel zu wenig Beachtung findet. Die meisten sitzen zwar im Exil, erhalten aber gerade jetzt Aufwind, weil die Islamisten ganz offensichtlich übertreiben.
Exzesse der Idiotie und Brutalität machen diese Reformer immer wichtiger. Der Ägypter Nasr Hamid Zaid etwa griff die Unfehlbarkeit der Geistlichen an. Die nannten ihn einen Gottlosen, und ein Gericht verfügte seine Zwangsscheidung, weil in Ägypten nur Muslime mit einer muslimischen Frau verheiratet sein dürfen. So läuft das!
Amirpur stellt mit Amina Wadud aus den USA und Asma Barlas aus Pakistan auch die wichtigsten weiblichen Vordenkerinnen eines neuen Islam vor. Sie bekämpfen die Sklavenhaltermentalität islamischer Machos. Sie wehren sich gegen Genitalbeschneidung, Zwangsheirat, die lebenslange Bevormundung durch Männer, das Eingesperrtsein im eigenen Haus. Die Verweigerung von Bildung oder Gewalt gegen Frauen werden ja auch noch gern – und völlig unsinniger-weise – mit dem Koran begründet.
Amina Wadud aus den USA zum Beispiel ist die erste Frau, die ein öffentliches Freitagsgebet leitete, an dem Männer und Frauen teilnahmen. Die konvertierte Tochter eines schwarzen Methodistenpfarrers sagt:

Für den, der in den Islam und die Gender-Apartheid hineingeboren wird, mag es Situationen geben, in denen manche Denkmuster, obschon sie unterdrük-kerisch sind, erduldet werden. Ich hatte diesen Hintergrund nicht und akzeptiere nichts, das meine Würde verletzt. Dagegen hatte ich ja schon in einem rassistischen Amerika zu kämpfen gelernt.“

Für Wadud und ihre Kollegin Asma Barlas beleidigt das Patriarchat den Islam und die Moral, weil es ungerecht ist. Es setzt die eigene Auffassung von Gottes Offenbarung mit der Offenbarung selbst gleich und die eigene Person an die Stelle Gottes. Was wäre das für ein jämmerlicher Gott, der universale Gerechtigkeit fordert und Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen duldet? Gottesrechte gegen Menschenrechte auszuspielen, so die Autorin, ist gegen jede Religion und jede Vernunft: Es ist zutiefst dumm und anachronistisch. Auch davon erzählt dieses Buch sehr überzeugend.


Doris Runge und die Urkraft der Dichtung


SWR2 Buchkritik: Doris Runge „zwischen tür und engel“, Gesammelte Gedichte. 
Deutsche Verlagsanstalt (DVA) München, 253 Seiten, 22,99 €
Gute Lyrik kann man auf mehreren Ebenen lesen und interpretieren. Sie ist mehrdeutig wie das Gedicht aus dem Band „zwischen tür und engel“, von dem eine Zeile den Titel gab. Die gesammelten Gedichte von Doris Runge sind zum 70. Geburtstag der Autorin am 15. Juli erschienen. Ausgewählt und in einem schönen Nachwort erklärt hat sie Heinrich Detering. Er versteht diesen zentralen Text als Sterbegedicht, aber man kann durchaus auch an eine erotische Begegnung denken. Der Titel lautet „blind date“:

es muss ja nicht
gleich sein
nicht hier sein
zwischen tür und
engel abflug
und ankunft
in zugigen höfen
es könnte
im sommer sein
wenn man
den schatten liebt
es wird keine
liebe sein
jedenfalls keine
fürs leben

Tatsächlich ist der Text beides. Hinter einem One-Night-Stand verbirgt sich der Todesengel. Auch wenn die Autorin in früheren erotischen Gedichten den Liebhaber nicht selten „Engel“ nennt – oder gerade deswegen. Was ist das Leben anders als die Liebe – eine flüchtige erotische Begegnung, schmerzhaft eingeklemmt in den schmalen Spalt zwischen Tür und Angel? Abflughallen irdischer Flughäfen, Ankunft im Jenseits? Doris Runge spielt meisterhaft mit solchen Mehrdeutigkeiten. Und Herausgeber Heinrich Detering betont diese Stärke durch die getroffene Auswahl. Es sind ihre schönsten und wichtigsten Texte, jedenfalls die allermeisten davon.
In konsequenter Kleinschreibung, ohne Satzzeichen und in konzentrierter rhetorischer Verknappung präsentieren diese Gedichte die Nachtseite der Romantik. Schon ganz zu Anfang finden sich typische Alltagsbeobachtungen mit Falltüren ins Psycho-Land. Zum Beispiel:

manchmal nachts
die morde
die wir tagsüber
mit sauberen händen
begehen

In elf Kapiteln, wobei die zwei ersten jeweils nur zwei Gedichte enthalten, folgt dieses Buch im Wesentlichen der Chronologie von Doris Runges Gedichtbänden: Von „Liedschatten“ im Jahr 1981 – mit IE geschrieben und eben KEIN kosmetischer Begriff – bis heute pendeln sie zwischen Eros und Tod. Runge-Gedichte sind ein Hexenkessel: Bannflüche, Bindesprüche, blutsaugende Vampirliebe. Sie schreibt die „Ballade von einem, der einzog, das Fürchten zu lernen, sieht sich „überm Teekessel, weiße Wolken, beschlagene Brillengläser“.
Hexen, Nixen oder auch die Mönche des alten Klosters in ihrer Heimat Cismar an der Ostsee: Runges Personal liebt Schatten, Mondnächte, das Überschreiten der Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Sie leben in Zwielichtwelten mit einer großen Tradition seit Goya, Theodor Storm oder E.T.A. Hoffmann. Manchmal kommt das lyrische Ich daher wie Draculas Braut oder eine Werwölfin.
Das letzte Kapitel heißt „federleicht“ und enthält neue Gedichte. Da staunt man wie die Autorin selbst darüber, was für ein blauäugiges, neugieriges, hungriges Kind noch in ihr lebt. Wirklich, in der Poesie sind 70 Jahre kein Alter. Das buchstäblich letzte Wort aber hat die Urkraft von 50 Jahren Dichtkunst:

könnte ich
den zorn halten
ihn einspannen
wie einen ochsen
ich würde
das brachliegende
tiefstumme
weiße
papier aufreißen...
schwarze lettern zerbrechen
aus den bindungen reißen
könnte ich den zorn halten
ich würde werwölfig umgehen

Wie es im Nachwort treffend heißt, hat man diese Gedichte sehr schnell durch. „Aber man wird nicht fertig damit“. Das sind Gedichte, die nachwirken. Dieses Buch ist ein Lebenswerk, das man ruhig immer wieder zur Hand nehmen sollte.