SWR2 Buchkritik
Wulf Kirsten: „fliehende Ansicht.“ Gedichte. S.
Fischer Verlag., Frankfurt a.M., 78 S, 16,99 €
Als Wulf Kirsten 1987 den Peter-Huchel-Preis des
Südwestfunks und des Landes Baden-Württemberg bekam, lobte die
Jury bereits die Genauigkeit seiner Naturlyrik in dem Band „Die
Erde bei Meißen“. Sie ist bodenständig, ohne jemals auch nur
ansatzweise zu „tümeln“. Auch sein neuer Gedichtband „fliehende
ansicht“ ist erdverbunden, aber nie provinziell oder gar bloß
höhere Heimatliteratur. Kirsten ist auf dem Dorf bei Meißen
aufgewachsen. Er wurde erst Buchhalter und dann Verlagslektor in
Weimar – Berufe für besonders genaue Leute. Das Titelgedicht
„fliehende ansicht“ beschreibt vordergründig eine Zugfahrt
durchs Tal der Saale. Zitat:
...o tempora, o mores,
jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt,
eine ruinöser als die andre,
scherbenhaufen hinterlassen, schutt...
Das ist moderne Vanitas-Dichtung und zugleich
politischer Protest gegen den Zeitgeist. Als Führer durch die
Geschichte der Region erklärt er bissig, was vorüberzieht: der Sitz des Nazi-Rassetheoretikers und Kunstprofessors
Paul Eduard Schultze-Naumburg, die Burg Saaleck mit ihrer
Historie, das Kösener Bahnhofslokal, wo sich Friedrich Nietzsche als
Schüler der nahe gelegenen Landesschule Pforta einmal fürchterlich
betrank.
Es ist schon fast unheimlich: Nur 78 Seiten dünn ist
dieses Bändchen; doch schriebe man alle Erklärungen aus, die
als Kürzel oder Andeutung in Namen und Orten stecken, würde es
doppelt so dick. Kirsten spielt mit Wörtern und Wortfeldern,
Bedeutungsebenen und Assoziationen. Seine Alterslyrik setzt neben der
Melancholie einer gewissen Todesnähe auch Humor und Ironie ins
Bild, etwa im „nachruf“ auf einen Medizinalrat K., dessen Praxis
nun Sperrmüll ist: „abgeschriebenes verdinglichtes leben, nun nur
noch Gerümpel … kisten und kästen, lampen und lumpen“. Solche
Wortspiele liebt Kirsten. Auch der Arzt kann sich am Ende selbst
nicht helfen. Und dann heißt es:
...jählings gefällt der mann,
ein hühne, sportlich gestählt,
firm in so mancher olympischen disziplin,
inbegriff eiserner konstitution,
ein luftzug hat ihn unter die erde
geweht, auf dem entsorgten gestühl
singt eine amsel und schmettert
voller wohllaut ihren nachruf
in den taufrischen morgen.
So ein starkes Finale mit Pointe zum Schmunzeln ist eine
von Kirstens Spezialitäten. Ansonsten ist er formal seiner
konsequenten Kleinschreibung treu geblieben – mit Ausnahme von
Eigennamen. Er baut seine Gedichte in frei-rhythmischen Versen ohne
Gliederung in Strophen oder Abschnitte. Punkte stehen fast nur am
Ende. Diese Texte fordern Konzentration, manchmal auch mehrmaliges
Lesen.
Eigennamen, die einzig großgeschriebenen Wörter bei
Kirsten, sind der Schlüssel zu einer weiteren Qualität seiner
Texte: der Schluftergraben im thüringischen Herbsleben, der
Ortsteil Röttelmisch in Gumperda, Saale-Holzland-Kreis
Thüringen oder die alte Jenaer Vorstadt Zweifelbach sind
Wüstungen – laut Lexikon Orte, die heute nicht mehr existieren
außer in Namen. Oft sind es sprechende Namen, die eine ganze
Geschichte erzählen.
Ob in Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, ob
in Dichterporträts, Landschaften, Flora und Fauna: Kirsten ist ein
Hüter klangvoller alter Wörter und Wendungen. So hält er sie
lebendig wie die unterschiedlichen Namen und Gebrauchsformen des
fast vergessenen Lippenblütlers Leonurus
cardiaca, aus dem Kräuterkundige früher
einen krampflösenden Tee gegen Herzbeschwerden gekocht haben. Solche
Verse sollte man laut lesen:
Löwenschwanz, Herzheil, Falscher Andorn,
Berufskraut zudem mitunter auch noch
gerufen, zumeist jedoch, wenn überhaupt
noch einer imstande, dir namen zu geben:
Leonurus, Katzenschwanz oder ganz einfach
Gemeines Herzgespann.
Diese 60 Gedichte gehören zum Schönsten und gedanklich
tiefsten, was deutsche Literatur derzeit zu bieten hat.
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