Seiten

Donnerstag, 13. September 2012

Wunderbare Gedichte

SWR2 Buchkritik
Wulf Kirsten: „fliehende Ansicht.“ Gedichte. S. Fischer Verlag., Frankfurt a.M., 78 S, 16,99 €

Als Wulf Kirsten 1987 den Peter-Huchel-Preis des Süd­westfunks und des Landes Baden-Württemberg bekam, lobte die Jury bereits die Genauigkeit seiner Naturlyrik in dem Band „Die Erde bei Meißen“. Sie ist bodenständig, ohne jemals auch nur ansatzweise zu „tümeln“. Auch sein neuer Gedichtband „fliehende ansicht“ ist erdverbunden, aber nie provinziell oder gar bloß höhere Heimatliteratur. Kirsten ist auf dem Dorf bei Meißen aufgewachsen. Er wurde erst Buchhalter und dann Verlagslektor in Weimar – Berufe für besonders genaue Leute. Das Titelgedicht „fliehende ansicht“ beschreibt vordergründig eine Zugfahrt durchs Tal der Saale. Zitat:

...o tempora, o mores,
jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist
längst abgeschrieben, triste
angelegenheiten langhin verzettelt,
eine ruinöser als die andre,
scherbenhaufen hinterlassen, schutt...

Das ist moderne Vanitas-Dichtung und zugleich politi­scher Protest gegen den Zeitgeist. Als Führer durch die Geschichte der Region erklärt er bissig, was vorüberzieht: der Sitz des Nazi-Rassetheoretikers und Kunstprofessors Paul Eduard Schultze-Naumburg, die Burg Saaleck mit ih­rer Historie, das Kösener Bahnhofslokal, wo sich Friedrich Nietzsche als Schüler der nahe gelegenen Landesschule Pforta einmal fürchterlich betrank.
Es ist schon fast unheimlich: Nur 78 Seiten dünn ist die­ses Bändchen; doch schriebe man alle Erklärungen aus, die als Kürzel oder Andeutung in Namen und Orten ste­cken, würde es doppelt so dick. Kirsten spielt mit Wörtern und Wortfeldern, Bedeutungsebenen und Assoziationen. Seine Alterslyrik setzt neben der Melancholie einer gewis­sen Todesnähe auch Humor und Ironie ins Bild, etwa im „nachruf“ auf einen Medizinalrat K., dessen Praxis nun Sperrmüll ist: „abgeschriebenes verdinglichtes leben, nun nur noch Gerümpel … kisten und kästen, lampen und lumpen“. Solche Wortspiele liebt Kirsten. Auch der Arzt kann sich am Ende selbst nicht helfen. Und dann heißt es:

...jählings gefällt der mann,
ein hühne, sportlich gestählt,
firm in so mancher olympischen disziplin,
inbegriff eiserner konstitution,
ein luftzug hat ihn unter die erde
geweht, auf dem entsorgten gestühl
singt eine amsel und schmettert
voller wohllaut ihren nachruf
in den taufrischen morgen.

So ein starkes Finale mit Pointe zum Schmunzeln ist eine von Kirstens Spezialitäten. Ansonsten ist er formal seiner konsequenten Kleinschreibung treu geblieben – mit Aus­nahme von Eigennamen. Er baut seine Gedichte in frei-rhythmischen Versen ohne Gliederung in Strophen oder Abschnitte. Punkte stehen fast nur am Ende. Diese Texte fordern Konzentration, manchmal auch mehrmaliges Le­sen.
Eigennamen, die einzig großgeschriebenen Wörter bei Kirsten, sind der Schlüssel zu einer weiteren Qualität sei­ner Texte: der Schluftergraben im thüringischen Herbsle­ben, der Ortsteil Röttelmisch in Gumperda, Saale-Holzlan­d-Kreis Thüringen oder die alte Jenaer Vorstadt Zweifel­bach sind Wüstungen – laut Lexikon Orte, die heute nicht mehr existieren außer in Namen. Oft sind es sprechende Namen, die eine ganze Geschichte erzählen.
Ob in Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, ob in Dichterporträts, Landschaften, Flora und Fauna: Kirsten ist ein Hüter klangvoller alter Wörter und Wendun­gen. So hält er sie lebendig wie die unterschiedlichen Na­men und Gebrauchsformen des fast vergessenen Lippen­blütlers Leonurus cardiaca, aus dem Kräuterkundige frü­her einen krampflösenden Tee gegen Herzbeschwerden gekocht haben. Solche Verse sollte man laut lesen:

Löwenschwanz, Herzheil, Falscher Andorn,
Berufskraut zudem mitunter auch noch
gerufen, zumeist jedoch, wenn überhaupt
noch einer imstande, dir namen zu geben:
Leonurus, Katzenschwanz oder ganz einfach
Gemeines Herzgespann.

Diese 60 Gedichte gehören zum Schönsten und gedanklich tiefsten, was deutsche Literatur derzeit zu bieten hat.

Keine Kommentare: