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Dienstag, 29. Mai 2012

Jubel im Festspielhaus Baden-Baden: Donizettis "Liebestrank" als Hollywood-Westernkomödie

Ankunft Ildebrando D´Arcangelo als Quacksalber Dulcamara
Gaetano Donizetti holte in seiner komischen Oper "Der Liebestrank" den Mythos der ewigen Liebe von Tristan und Isolde auf die Bühne, und Regisseur Rolando Villazón geht bei seiner zweiten Inszenierung nach Massenets "Werther" in Lyon konsequent noch einen Schritt weiter. Bei den Pfingstfestspielen Baden-Baden stellt er die romantische Story in die Rahmenhandlung einer Westernproduktion. Traumfabrik das eine wie das andere, aber auch eine Geschichte über die berauschende Wirkung von Placebos und Selbstbewusstsein, die Verführbarkeit der Menschen durch Uniformen, Blendwerk oder ganz einfach gute Laune.
Die Geschichte selbst ist im Kern so simpel wie universal: Ein reisender Quacksalber und Soldaten kommen ins Dorf, wo der einfache Bauer Nemorino (deutsch: ein kleiner Niemand) die schöne und reiche Adina vergeblich liebt. Sie bandelt auch gleich mit dem Sergeanten an, und der eifersüchtige Nemorino versucht sein Glück beim Quacksalber. Dessen "Liebestrank" mag ein Fläschen Bordeux sein oder im Western Whiskey - es ist in jedem Fall ein Placebo. Im Rausch des Feuerwassers wächst der schüchterne Nemorino über sich hinaus, zeigt Selbstbewusstsein und gewinnt am Ende Adina durch "innere Werte" für sich. Oder fast, denn hinzu kommt freilich eine Erbschaft, die schon zu biblischen Zeiten der Liebe recht nützlich war.

Miah Persson als kokette Adina
Die Premiere dieser beliebten Oper im Festspielhaus Baden-Baden am Pfingstmontag war ein Fest - nicht nur für die Sinne, sondern auch für die Gattung Musiktheater. Da stimmte einfach alles. Balthasar-Neumann-Chor und Ensemble unter der sensiblen Leitung von Pablo Heras-Casado hätten sicher auch den Komponisten begeistert, wie sie die romantische Absicht der Musik gegen die Fallstricke des Librettos durchsetzten. Diese Oper wirkt wie für den Tenor und Regisseur Rolando Villazón geschrieben, der schon als Sänger gern den romantischen Clown mit melancholischen Anflügen gab. Hier erwies sich der "Liebestrank" als ideale, weil um Regieeinfälle erweiterte Villazón-Spielwiese.
Gespielt wie im Rausch

Roman Trekel als Sergeant Belcore










Die Wildwest-Rahmenhandlung funktionierte, Slapstik-Einlagen wie eine saftige Wirtshauskeilerei oder eine frühzeitige Sprengung im Bergwerk, als sich der deprimierte Nemorino geistesabwesend auf den Auslöser der Sprengladung setzt, verdanken sich einer ungewöhnlich ideenreichen und spielfreudigen Persönlichkeit. Selbst die unvermeidliche Torte, die Adina Nemorino zugedacht hat, bekommt ein anderer ins Gesicht, weil Nemorino sich "zufällig" gerade bückt. Dazu gehören auch Statisten, die absolut nichts zu tun haben, wie ein ewig herumstehender Indianer oder ein schattenboxender Chinese. Beide zeigten stumm, aber mit skurriler Situationskomik, oft nur das Groteske einer Situation auf.
Im Rausch des Feuerwassersläuft Villazón als Nemorino zu ganz großer Form auf, Placebo hin oder her. Fanden sich vor der Pause noch vereinzelt Kommentare im Publikum wie "Er ist ein großer Tenor, hat aber den Höhepunkt seiner Laufbahn hinter sich", so gab es am Schluss nichts dergleichen mehr zu hören. Die berühmten Arie "Una furtiva lacrima" (eine verstohlene Träne) zeigte Villazón auf dem Gipfel seiner Rolle als trauriger Clown: ernst, tiefgründig, gefühlvoll. Kein Gebrüll, kein Gequetsche, sondern eine schöne, runde, weiche und doch kraftvolle Tenorstimme mit einem langen Atem und großem Volumen auch im Tutti. Ich glaube, genau so wollte das Donizetti.

Happy End ohne falsche Untertöne
Miah Persson als Adina bzw. Filmdiva sang eine große Rolle technisch perfekt und mit großer Hingabe ans Spiel. Ildebrando D´Arcangelo als Quacksalber, Filmregisseur und agiler Schauspieler Dulcamara war ein großartiger, temperamentvoller Bassbariton und überzeugte in jeder Hinsicht. Seine reizende Assistentin Gianetta (Regula Mühlemann) hatte leider nicht viel zu singen, aber was da von ihr kam, war wunderbar. Einzig der Macho Belcore, der als Sergeant einen Filmstar geben sollte, wirkte manchmal aufgesetzt und auch stimmlich nicht in guter Verfassung. Das Bühnenbild von Johannes Leiacker tat das Seinige zum Gelingen der Rahmenhandlung, ebenso wie die Kostüme von Thibault Vencraenenbroeck.Im Übrigen standen Regie, Bühne und Kostüme ganz im Dienst der Musik.
Der Abend endete mit 20 Minuten Applaus, Bravorufen, Blumen und stehenden Ovationen des Publikums: Glücksgefühle auf beiden Seiten des Orchestergrabens. Was will man mehr?

(Fotos: Copyright Andrea Kremper, Festspielhaus Baden-Baden)




Sonntag, 27. Mai 2012

Von meinem Bücherbord: aktuelle Sachbücher

Hölderlin-Haus in Lauffen am Neckar
Hölderlins Geburtshaus oder nur das Haus seiner Kindheit - das wird wohl ungeklärt bleiben. Das Haus steht unter Denkmalschutz, aber der Eigentümer lässt es verfallen, weil er  mit der Gemeinde um den Kaufpreis streitet.

So etwas kann man kaum als Liebe zu Literatur oder Heimat oder gar "geistigen Wurzeln" verkaufen. Das Fenster im Dachgiebel steht seit Jahr und Tag offen, Regen und Wind, Sonne und Frost, Fledermäuse und Vögel haben freien Zutritt, aber kein Leser Hölderlins. Vor knapp 10 Jahren hat die Gemeinde Lauffen am Neckar die Nordheimer Straße ausgebaut, an der das Hölderlinhaus liegt. Seitdem donnern täglich Busse und Schwerlastverkehr unmittelbar an dem Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert vorbei, das Hölderlins Vater als Verwalter des benachbarten Klosters bezog.
Die Erschütterungen durch den Verkehr belasten das Haus schwer. Vor etwas zwei Jahren krachte ein Laster bei der Bergabfahrt an die vorspringende Treppe zum Haupteingang, weil der Gehsteig an dieser Stelle nur noch ca. 50 cm breit ist. Mögliche Schäden an den Fundamenten wurden nie untersucht, die Treppe bloß optisch wieder gerichtet.
Die Stadt Lauffen erklärt, sie wolle das Haus kaufen und eine Begegnungsstätte für Literaturfreunde daraus machen. Das Haus soll Teile des städtischen Kulturamtes, eine Stipendiatenwohnung, Tagungsräume, ein Museum und einen gastronomischen Betrieb aufnehmen. So, wie es momentan dort aussieht, ein wenig plausibler  Plan. Das sollte im Hinterkopf haben, wer aktuelle Bücher über Hölderlin liest. Im März 2012 las im Veranstaltungsraum des benachbarten Stadtmuseums

Thomas Knubben "Hölderlin. Eine Winterreise" (255 S.,19,90 €, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen): Das Erbe Hölderlins taugt aber zu mehr als nur zur Einnahmequelle. Auch wenn die Arbeitsstelle für literarische Museen und Gedenkstätten beim Deutschen Literaturarchiv Marbach von hier ausgehend ein ganzes Netz von literarischen Radwanderwegen fördert. Ein Teil davon hatte es dem Kulturwissenschaftler Knubben auch als Fußweg angetan - erstaunlicher Weise sogar mitten im kalten Winter. Er vollzug Hölderlins Reise von Reutlingen über Stuttgart und Tübingen bis hin in die südfranzösische Weinhauptstadt Bordeaux nach, wo Hölderlin einige Zeit als Hauslehrer Arbeit gefunden hatte.
Im Dezember 2007 überquerte er die Schwäbische Alb und den Schwarzwald, marschierte über Straßburg, Lyon und die Auvergne bis Bordeaux. Er wollte wissen, ob es so Neues zu erfahren gibt über das Leben des Dichters, der krank, verwirrt und gebrochen von dieser Reise heimkehrte. Es war nicht viel. Viel aber konnte er tun, um den Lyriker vom Neckarstrand ein Stück weit in den Erfahrungshorizont der Gegenwart zurückzuholen - sogar in Lauffen am Neckar, wo der Großteil der Einwohner Hölderlins Erbe eher mit grober bäuerischer Verachtung gegenübersteht und nur Interesse am Erwerbsleben hat. Es ehrt den Bügermeister Klaus-Peter Waldenberger, dass er so eine "Unheimliche Begegnung der dritten Art" in Lauffen möglich macht.

Stéphane Hessell, "Empört Euch!" (30 S., 3,99 €) und "Engagiert Euch!" (60 S., 3,99), Ullstein-Verlag, Berlin: Ausgerechnet in dem konservativen Verlagsimperium von Axel Springer in deutscher Sprache erschienen - eine gute Tat zu einem wahrhaft demokratischen Preis! Zwei wichtige Büchlein über das Bürgerrecht zum Widerstand gegen eine Politik, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr bringt, soziale Standards abbaut und das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung und Sicherheit bei der großen Mehrheit der Menschen nicht mehr anerkennt. Damit man vergleichen kann, wie das noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg international beurteilt wurde, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Anhang von "Engagiert Euch!" abgedruckt, hinter deren Umsetzung in den Verträgen von Bretton Woods die Anhänger eines globalen Finanzkapitalismus weit zurückgefallen ist. So gesehen, ist Hessel, der im Widerstand gegen Hitler gekämpft und im KZ gesessen hatr, noch mit über 90 Jahren zum Vordenker der Occupy-Bewegung geworden: eine bewegende Lektüre.

Brian Greene, "Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos" (448 S., 24,99 €, Siedler Verlag,München): Viele SF-Autoren haben darüber spekuliert, wie Parallelwelten aussehen könnten oder wie Weltraumreisen durch "Wurmlöcher" zwischen perallelen Galaxien entscheidend vereifacht und mit mehr als Lichtgeschwindigkeit möglich wären. Jetzt geht ein Physiker und Bestsellerautor hin und stellt das Ganze auf den Prüfstand. Ein Gedankenspiel, das sich die meisren seiner Kollegen als realitätsfremd verbieten. Das macht Greene sympathisch. Allerdings ist auch er ein Gläubiger, der gern über unsere graue alltägliche Realität hinausdenkt. Schön wär´s, allein mir fehlt der Glaube. Kein neues Argument unter der Sonne macht das alles wahrscheinlicher.

Peter L. Bergen, "Die Jagd auf Osama Bin Laden. Eine Enthüllungsgeschichte" (368 S., 19,99 €, DVA München): Der Autor hat schon drei Bücher über Bin Laden und al-Quaida geschrieben, er ist in den USA Mitglied diverser Sicherheitsberatungsgremien, unterrichtet an Hochschulen und kann schreiben. Er verfügt über Insiderwissen und recherchiert solide, aber er macht auch schrecklich viel Wind um sein Thema. Wer wirklich genau wissen will, wie es um die Verwandtschaftsverhältnisse, die Wanderbewegungen, die Netzwerke und die des Mannes bestellt war, der bis zu seiner Tötung durch ein US-Sonderkommando in Pakistan 2011 Staatsfeind Nr. 1 für die USA war und dem weltweiten Terror gegen die Industrienationen des Westens Auftrieb gab, der sollte dieses Buch lesen. Der Mann hat das Grauen zu seinem Beruf gemacht. Mir genügt die Zeitung.

Roman Maria Koindl, "Blender. Warum immer die Falschen Karriere machen" (260 S., 16,99 €, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg): Der Autor ist bekannt für seine scharfe Zunge seit dem Bestseller "Scheißkerle", aber nicht unbedingt für den Neuigkeitswert seiner Mitteilungen. Er ist sprachlich kreativ wie ein Comedian, wenn er von "Schlipswichsern" spricht, er verfügt bei der Analyse bekannter Zusammenhänge durchaus über analytischen Scharfsinn und zeigt Zusammenhhänge deutlich, die sowieso jeder kennt. Aber die meisten verdrängen, dass die schlechter ausgebildeten, sozial weniger kompetenten und intriganten schon immer die Karriere machen statt sie den gut ausgebildeten, sachlich kompetenteren, netten und menschlich wertvolleren Kollegen zu überlassen. Bloß ändert sich daran nichts,wenn man dieses Buch liest. Andernfalls wäre die Arbeitswelt ein Paradies und weder Haifischbecken noch Hamsterrad. Kein Chef-Arsch wird angstvoll furzen und sich vor dem harmoniesüchtigen Kritiker fürchten, kein Goldstück und keine Perle wird sich für Intrigen auch nur interessieren oder Kraft und Zeit auf Gemeinheiten verschwenden wollen. So what?

Alexander Neubacher: ÖKOFIMMEL (272 S., 19,99 €, DVA München): Wie wir versuchen, die Welt zu retten, und was wir damit anrichten bzw. wie man uns damit verarscht, zeigt manchmal durchaus witzig ein Autor, der schon beim Nachrichtenmagazin SPIEGEL das Maul wetzen lernte. Neben durchaus berechtigter Kritik an der aktuellen Umweltpolitik steht das lustvolle Schlachten Heiliger Kühe auf seinem Programm. Dass etwa Biodiesel und Maisdanbau für E10 technisch Blödsinn ist und den Hunger in der Dritten Welt verschärft, wissen wir aber schon. So gesehen rennt der Autor mit Getöse manche weit offene Tür ein (z.B. der Unsinn der Energiesparlampe, die Negativfolgen falschen Wassersparens, die Gefahren einer Energiewende ohne neue Netze und Speichertechnik, der Quatsch mit dem ewigen Gerede von "Wachstum", die Unerträglichkeit ökologischer Oberlehrer, die gern Menschen gängeln). Bio contra Öko, DDT, Gut gegen Böse, Gentechnik-Phobie: da gibt es durchaus echten Diskussionsbedarf; denn Neubacher provoziert, damit Probleme auch zu Ende gedacht werden. Bemerkenswert sind vor allem einige konkrete und gar nicht dumme Vorschläge im Schlusskapitel "Was tun?" Jede Umweltpolitik gehört ab und zu reformiert und durchgerüttelt. - Kein übler Gedanke.





Von meinem Bücherbord: Biographien

Christiane Zehl-Romero, "Anna Seghers. Eine Biographie 1900-1947" (Aufbau-Verlag Berlin, 560 S., 30,63 €): "Was zählt, ist das Werk und nicht die Person", hat Anna Seghers immer gesagt, um Fragen nach ihrer Biographie zu blockieren. Sie hat Spuren verwischt und mit Bedacht selbst gelegt, also kein Interesse an der Wahrheit gehabt. Sie war eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen im 20. Jahrhundert, aber sie war auch Funktionärin der KPD und eine Zeitlang Kulturministerin der DDR, auf deren Konto eine Reihe von Verbrechen an der Kultur und an einigenn ihrer Schriftstellerkollegen gehen. Mit besonderem Interesse liest man daher die detailreiche Biographie im ehemaligen DDR-Verlag Aufbau, aber Befriedigung stellt sich nicht ein. Zu hölzern die Sprache, zu lang die Sätzte, zu dürftig die rekonstruierten Fakten. Und vor allem: Das Buch ist zu Ende, bevor Seghers 1947 aus dem mexikanischen Exil in die DDR zurückkehrt, also bevor es wirklich spannend hätte werden können. Da hat die Autorin, eine vergleichende Literaturwissenschaftlerin aus Wien mit Stationen an der Sorbonne und an der Yale University, die heute in den USA lebt, bequem eine Fleißarbeit zu Geld gemacht, weil der große Name ihres Opfers dazu einlud. Die Seghers "von vereinfachenden Wahrheiten zu befreien" hätte anders ausgesehen, sorry.

Rolf Hosfeld: TUCHOLSKY. Ein deutsches Leben (320 S., 21,99 €, Siedler Verlag, München): Das ist eine Biographie, die den Namen auch verdient. Hosfeld arbeitet hauptsächlich als Dozent, Verlagslektor, Redakteur und Feuilletonleiter der Wochenzeitung "Die Wioche". Und er arbeitet historisch aufrichtiger, aber nicht weniger gründlich. Tucholsky als Publizist der Weimarer Republik, der Berliner Satiriker, Lyriker, Romancier und zeitweilig auch Herausgeber der Wochenzeitung "Weltbühne" war ein hellsichtiger Gesellschaftskritiker, ein Nazigegner, aber kein Intrigant und Kameradenschwein, letzten Endes ein wunderbarer Dichter und Mensch. Hosfeld erzählt sein Leben wie einen Roman: intensiv, kurzweilig und engagiert auch da, wo er leichtfüßig daherkommt. In dieser Biographie entsteht zugleich ein interessantes Bild der Zeit zwischen 1890 und 1935. Ach, wie gut täte uns heute wieder ein Tucholsky! Am 21. Dezember 1935 starb er in Göteburg an einer Überdosis Schlaftabletten, und die Fachwelt diskutiert bis heute darüber, ob das ein versehen oder Absaicht war. Tatsache ist: Tucholsky ging ins Exil, als die Nazis an die Macht kamen, und konnte ohne Beruhigungsmittel nicht mehr schlafen. Das hat ihn umgebracht. Der Rest ist Schweigen.

Von meinem Bücherbord: Erzähler

Carlos Ruiz Zafón, "Marina" (Roman, 350 S., 19.95 €, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.): Der Ich-Erzähler streift immer noch am liebsten durch die verwunschenen alten Villenviertel von Barcelona, wo er eines Tages - o Wunder - ein faszinierendes Mädchen namens Marina trifft. Und ab geht die Post ins düstere Geheimnis ihres Vaters (natürlich einst der reichste Mann der Stadt) und eine gruslige Mischung aus Schmerz, Trauer und Liebe. Immer noch spannend, aber nach den Bestsellern "Der Schatten des Windes" und "Das Spiel des Engels" substanziell eher mager. Sicher, der Mann kann schreiben, doch langsam gehen ihm anscheinend die Ideen aus. Sonst hätte die Mixtur nicht immer die gleichen Zutaten: Junge Frau, böser Alter, jugendlicher Held, Untote und Gespenster in der Kanalisation, viel Blut und Geschrei und am Ende ein alles vernichtendes Feuer.

Nino Haratischwili, "Mein sanfter Zwilling" (Roman, 380 S., 22,90 €, Frankfurter Verlagsanstalt): Die junge Autorin aus Tiflis erzählt die Geschichte einer leidenschaftlichen und destruktiven Liebe. Stella und Ivo schwanken zwischen erotischer Anziehung und hasserfüllten Streitereien in einer chaotischen Familie. Die Protagonistin Stella berichtet in Rückblicken von der Geschichte ihrer Familie: von der Affäre ihres Vaters Frank mit Ivos Mutter, von den Nachmittagen im abgelegenen Haus am Hafen, wo sich das Paar trifft und die Kinder die Erwachsenen bei der Liebe beobachten. Über ihre Eltern kommen sich Ivo und Stella näher und versuchen, deren Geheimnis vor Ivos Vater und Stellas Mutter zu verbergen. Am Ende steht noch eine Reise in politisch-historische Angründe: in die gemeinsame Heimat Georgien, in der ein blutiger Krieg auch Ivos Familie zerrissen hat. Tolle Bilder aus dem gastfreundlichen, schwer durchschaubaren Georgien, ein faszinierendes Psychodrama, aber zu viel Geheimnis für ein einziges Buch. Außerdem ist der "sanfte" Zwilling alles andere als sanft, sondern eher ein brutaler Anhänger der "Konfrontationstherapie".

Wladimir Kaminer, Liebesgrüße aus Deutschland" (Erzählungen, 288 S., 17,99 €, Manhattan Verlag bei Goldmann in Randomhouse): Der komischste eingewanderte Russe Deutschlands lebt immer noch in Berlin und macht immer noch herrliche Satiren. Nicht nur über sein Gastland und seine Heimat, sondern auch über Juden, Russen, Deutsche, Österreicher und andere Gruppen. Politisch korrekte Deutsche dürften niemals so schreiben, ohne dass sie mit der Moralkeule niedergestreckt würden. Aber Kaminer darf das Finanzamt, die Lebensgewohnheiten hierzulande, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Ausländer und Sex auf die Schippe nehmen, ohne dass was passiert. Vielleicht ist gerade das der einige kleine Beigeschmack: dass es ihm und uns so gut geht bei all edm Elend.

Cornelia Haller, "Seelenfeuer" (ein historischer Roman, 464 S., 17,99 €, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg): Die Autorin vom Bodensee hat mit ihrem Romandebüt die spannende Geschichte über die Hexenprozesse in Konstanz erzählt. Die Hebamme Luzia Gassner ist rothaarig, verfügt über exzellendes Wissen aus Kräuterheilkunde und Medizin. Das und ihr Selbstbewusstsein machen sie einer alt eingesessenen Kanzelschwalbe und Konkurrentin, die bei Geburten alles außer beten für "Sünde" hält, und bigotten Klerikern zur Zielscheibe von Hass und Vorurteilen. Nach einem schweren Unwetter, das ganze Landstriche in Armut stürzt, gelingt es dem abergläubischen und frauenfeindlichen Kaplan, den Mob gegen die angebliche Hexe aufzuhetzen. Nur ihr Onkel, der Apotheker in Konstanz, und der junge Stadtarzt halten zu ihr. Ein Inquisitionsgericht, ein Gottesurteil, die Pest, die Arbeit einer Hebamme und eines Arztes im Mittelalter: das alles wird lebendig in diesem Buch. Erkennbar Frauenliteratur und manchmal stilistisch ein wenig behäbig, entwickelt das Buch aber einen starken Sog, der den männlichen Leser bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt.


Von meinem Bücherbord: Lyrik in Kürze

"Flügel und andere Füße" von Ych Anderson (95 S., 17,90 € Dossenverlag, Dossenheim): Hoch gebildet schwankt dieser Autor zwischen poriapischem Unernst und medizinisch gebrochenem Pathos. Manche Texte wirken wie eine Maus, die der alte Kater Herrchen/Frauchen oder den Göttern der griechischen Antike zu Füßen legt. Musen sind´s auch gelegentlich: "Ob man / sich irgend was / ich weiß nicht / was / vielleicht noch auf- / heben? kann für / seinen Tod .../ vielleicht ein Bild / ein Buch ein / Händchen das / man halten könnte? / Wir woll´n doch / alle nicht nur / an den Wurzeln nagen!" Mag auch manches Wortspiel zum Kalauer verkommen, Spaß macht´s allemal.

"eine hand voll du" von Wolfgang Haenle (140 S., 11,50 €, schweikert Verlag Bonn): Das lyrische Debüt des in Altötting geborenen Stuttgarters zeigt einen Autor, der gern mit Metaphern spielt. Der Unteritel "Liebesgedichte" versammelt das Bändchen Texte über Beziehungen, aber auch über die Bretagne, wo ihm südliches Flair und Licht Inspirationsquellen waren. Humor und Sinnlichkeit auch hier, etwa unter dem Titel "umkleide": "beinahe wäre es gut gegangen / da macht dein kleid faxen / ein spagat zur decke gestreckt / die luft wird eng. zu spät / du stehst im freien / er klopft nicht mal / über den kopf gestreift dein panorama / füllt ihm die augen und die hose". Manchmal gerät ein Bild schief (wie geht das: ein Spagat zur Decke gestreckt?), manchmal gerät ein kritischer politischer Anspruch im Pathos zu dick und dann unfreillig komisch wie in dem Text "prellbock", der sich gegen Stuttgart 21 richtet. Da heißt es am Ende nur "sag mir: wir kommen wir um gotteswillen / mit dem bummelzug nach oberkochen".

"Offene Unruh - 100 Liebesgedichte" von Michael Lentz (167 S., 16,95, S. Fischer Verlag, Frankfurt a,M.): Das ist ein Profi - trotz der sinnlosen Kleinschreibungsmode. Seine Liebesgedichte sind wirklich welche und richten sich sogar an eine gewisse Sophia. Sprachlich virtuos, aber nicht geschwätzig, umkreist der Dürener Lautpoet, Drehbuchautor und Musiker den wahrscheinlich ältesten Gemütszustand der Welt. "du bist / eine falle / und ich falle / in dich". Musthave - trotz der krankhaften Marotte unmotivierter Kleinschreibung!

"Zweiklang", "Wörterspuren  heißen die schmalen, an Zeitschriften erinnernden Lyrikbändchen, die Hubert Tassati aus Linz im Selbstververlag "wortstämme" für jeweils 5, 10, 9,50 oder 15 € anbietet: Da leider jemand mit vieleseitiger künstlerischer Begabung Begabung an Logorrhoe: "ich kann das ende / nie kommen sehen / der anfang war / immer ein zu / früher / meine seele schrie / immer ach hunger / die endültige liebe / war nie dabei / weil es keine / endgültigkeit gibt" schrieb er am 04.08.2010. Ein typischer Text: fängt mit einem guten Aphorismus an und stürzt ab über eine unmögliche Metapher (man kann vor Hunger schreien, aber nicht nach Hunger!). Lyrik darf fast alles, aber nicht gegen Naturgesetze und Logik verstoßen oder disziplinos sein.

Samstag, 26. Mai 2012

Neue Lyrik von Peter Schlack

Peter Schlack in Aktion
Totgesagte leben länger: Peter Schlack war lange Zeit still, aber jetzt hat einen neuen Gedichtband vorgestellt, kürzlich beim Weinmusketier bei Guido Keller in Stuttgart-Degerloch.

Titel: "Aber heb mol an Luftzug. Schwäbische Gedichte", 103 Seiten erlesene Texte -und etliche vorgelesene. Beim Silberburg-Verlag in Stuttgart liebevoll gemacht.

Das sind Kindheitserinnerungen an Gablenberg und eine Familie im Arbeiterviertel, aber auch über die Zeitläufte und Veränderungen eines Lebens seit 1943.

Komisch, man hört und versteht gleich. Aber gedruckt sind diese Texte selbst dann sperrig, wenn man sie fast schon auswendig kennt wie das Gedicht über Nachhaltigkeit:


Vor 20 Jòhr bisch aegspart worda. Des isch noh an
Argument gwä. Heit wirsch ab-baut. Lass drs uff dr
Zong vrganga. Aber wieso sag-e des grad dir mit
daem Hetschfond-Schärhaulder-Ackermann-Komplex.

Liebevoll maulfaul: so sind die Besten der Schwaben, mit einem hintergründigen Humor und einer trockenen Selbstironie, die auch existenzielles Gruseln noch genießbar macht. Aber Vorsicht: den Wein zahlt man selber, und im Hinter- und Untergrund der ganzen Lacher lauert eine jesusmäßige Wut und Lebenserfahrung. Da spricht auch der langjährige Sozialarbeiter und Therapeut in der Jugend- und  Drogenberatung.
Schöne Widmungsgedichte lese ich: für Helmut Pfisterer ("Weltsprache Schwäbisch") oder Heinz Eberhard Hirscher zum Beispiel, den unvergesslichen Stuttgarter Schwitters-Schüler, schwäbischen Simplizissimus und Ersteller des einmaligen Granatapfelarchivs (im Land der Granatendackel eine Leistung ohnegleichen). Da wirkte vielleicht noch eine Granate nach, die 1943 im Unterstand des Luftwaffenhelfers aus dem Jahrgang 28 einschlug, vier seiner Kameraden tötete und ihm eine bleibende Abneigung gegen den Krieg verpasste.
Aber was soll´s, würde er sagen: die Jugend vergeht von selber und für meinen Drogenkonsum brauch´ ich schon lange keine Beratung mehr. Und machte sich auf den Weg zu einem langen Sommer in Finnland, der Heimat seiner Leena. Wie schon seit vielen Jahren, nur seit dem Ruhestand länger. Zu all dem gibt es da zu lesen von Natur im Hiesigen und im Finnischen, Stimmungen, Lebenserfahrungen, Kinderspiele, philosophische Überlegungen und Jazzgedichte, von denen ich gar nix versteh. Die Musik hör ich lieber.

Montag, 21. Mai 2012

Justus Frantz unterstützt Rossini-Festival in Wildbad

















Wegen Brandschutzauflagen bleibt das frisch renovierte Kurtheater während des Festivals 2012 geschlossen. Justus Frantz gibt deshalb am Mittwoch, 23.05. ein Benefizkonzert, um die Bauarbeiten zu unterstützen. Der Hinweis kam etwas spät vom Förderverein, der am 20. Juni 25. Geburtstag hat - noch ein Anlass, über die Sorgen des Festivals zu berichten, bevor es am 8. Juli losgeht, nur leider ohne Kurtheater. Der Schwarzwälder Bote titelte schon am 14. Mai:

Justus Frantz lässt Bauherren nicht im Stich

Bad Wildbad. Vor mehr als 25 Jahren ist der entscheidende Anstoß zur Grundsanierung des Königlichen Kurtheaters in Bad Wildbad von dem Pianisten, Dirigenten und Fernsehmoderator Justus Frantz gekommen. Er übernahm die Schirmherrschaft. Am 23. Mai ist der Künstler in der Kurstadt zu Gast.
Jetzt beginnt die letzte Bauphase für die Sanierung des Kurtheaters. Wie Eckhard Peterson, Vorsitzender des Fördervereins Kurtheater Wildbad, deutlich macht, müssen unter anderem die Brandschutzauflagen erfüllt werden, damit das Gebäude wieder bespielbar ist. So steht das Kurtheater in diesem Jahr nicht für das Festival "Rossini in Wildbad" zur Verfügung.
Justus Frantz hilft mit einem Benefizkonzert, das am Mittwoch, 23. Mai, ab 19.30 Uhr im Bad Wildbader Kurhaus stattfindet. Der Künstler wählte für die Vorstellung das Motto "Mozarts Reise nach Paris". Zu hören sind die Reisesonate in F-Dur, die a-Moll-Sonate, die Revolutionssonate – der Aufstand gegen den Vater – und die A-Dur-Sonate mit dem türkischen Marsch.
Zum Hintergrund: Mozarts Leben war bestimmt von den Wünschen und dem Diktat seines Vaters. Ohne seinen Wunsch komponierte und reiste er nicht. Bei seiner Tour nach Paris war plötzlich alles anders. Mozart erlebte zum ersten Mal die Freiheit. Justus Frantz erklärt beim Konzert, wie und warum dieser Aufbruch in die Freiheit zustande kam. Diese Freiheit gab Mozart neue Inspiration und er machte etwas daraus: Der Komponist bewies sich und der Welt, dass er zu neuen Ufern aufbricht, heißt es in einer Pressemitteilung. Frantz schildert die jeweiligen dramatischen Situationen in Mozarts Leben.

Sonntag, 20. Mai 2012

Katholikentag 2012 in Mannheim: eine Baustelle
















Ein Zentrum für Männer und Frauen ist noch eigens benannt und wohl noch nicht normal in dieser Kirche. Im Karl-Friedrich-Gymnasium hatten sich die Geschlechter trotzdem mehr zu sagen als Gläubige und Vertreter der Amtskirche. Frauen in Amt und Würden? - Fehlanzeige. Ein Platz für Schwule und Geschiedene am Tisch des Herrn? - Ebenfalls Fehlanzeige. Abschaffung des Zölibats als Voraussetzung zum Priesteramt? - Nicht einmal eine Diskussion wert für die Vertreter der Amtskirche. Dabei wurde der Zölibat nicht von Gott bestimmt, sondern auf dem Konzil zu Konstanz, um die Erbteiliung von Kirchengütern durch Priesterkinder zu unterbinden. Frauen im Priesteramt hat nicht etwa Jesus abgelehnt, sondern eine Clique klerikaler Frauenhasser im finsteren Mittelalter. Da kann man nur hoffen, dass aus der Baustelle irgendwann im 21. Jahrhundert wieder etwas Bewohnbares wird.
In der Schule übrigens, wo ich einen Workshop über Gioconda Belli hielt, die "Dichterin der Liebe" aus Nicaragua, zeigt sich auf Mitleid erregende Weise den Verfall des deutschen Bildungssystems: Undichte Fenster, bröckelnder Putz, 50 Jahre alte Tische und Stühle. Das ist die Atmosphäre, die zu lernen anregen soll? Hier wurde Pisa gezüchtet, hier wurden die Ideale der humanistischen Bildung kaputt gespart. Aber immerhin wird renoviert. Wollen wir hoffen, dass bis zum Winter wenigstens die Heizung wieder funktioniert. - Gut Ding will Weile haben. Aber was Bildung und Kirche angeht, werden die Menschen den Bau wohl selbst in die Hand nehmen müssen, wenn zu ihren Lebzeiten noch etwas draus werden soll.

50 Jahre Humboldtgesellschaft

Die Humboldt-Universität in Berlin ist wohl das sichtbarsteVermächtnis der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt. Sie war Schauplatz eines akademischen Festaktes zum 50. Geburtstag der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V. am 5. Mai 2012
In den ehrwürdigen Räumen versammelten sich über 100 Mitglieder sowie zahlreiche Freunde und Gäste. Die Begrüßung durch den Präsidenten, Prof. Dr. Erwin Kuntz, war ein emotionaler Augenblick. Kuntz gehört noch zu den Gründungsmitgliedern und ist mit über 90 Jahren noch immer aktiv.



Sein Rückblick auf 50 die Geschichte der einzigen akademischen Gesellschaft ohne Fachgrenzen ist auch eng mit seiner Laufbahn als Forscher und seinem Wirken im Ehrenamt für die Ideale des Humanismus im Sinne der Humboldt-Brüder verbunden.

Zugleich wurde deutlich, dass die Humboldtgesellschaft an Überalterung leidet und dringend jüngere Mitglieder braucht, damit die Arbeit weiterhin fruchtbar sein kann. Hat man heute auch überwiegend den Eindruck, der Name Humboldt inspiriere vor allem Ärzte und Naturwissenschaftler, so zeigen vor allem die älteren Mitglieder der Humboldtgesellschaft, dass Sprachwissenschaftler, Philosophen, Theologen und andere Vertreter der Geisteswissenschaften sich mindestens ebenso davon angesprochen fühlen können. Sie waren zahlreicher in der Versammlung vertreten als vermutet.


Den Festvortrag hielt Prof. B. Andrzejewski von der Universität Poznan (Polen). Der Ordinarius für Philosophie und Germanistik sprach lebhaft, kenntnisreich und unterhaltsam über "Die Sprachphilosophie der deutschen Aufklärung und Romantik". Was Deutsche und Polen vereint, ist nicht nur die lange Liste der Stipendiaten, die der Schwestergesellschaft, der wissenschaftlichen Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die Grundlagen ihrer Karriere an Hochschulen in aller Welt verdanken. Es ist auch eine lange gemeinsame Geschichte im Geist wissenschaftlichen Austausches und europäischen Denkens.
Nachdenken über die Sprache als Instrument, Ausdrucksmittel und zugleich Speicher des Wissens und der zwischenmenschlichen Kommunikation wird heute eher unterbewertet. Sprachkompetenz indessen ist eine zwingende Voraussetzung für jede so oft berufene Medienkompetenz im Zeitalter von Internet und globaler Kommunikation. Und ohne zu wissen, woher man kommt, kann niemand auch nur ahnen, wohin er geht.
 

Im Übrigen war die Tagung ein einziger Ausflug auf den Spuren von Alexander und Wilhelm von Humboldt. Ihr Elternhaus, das Humboldtschlösschen, wird noch heute ihren Nachfahren bewohnt. Zugleich aber ist es ein Museum, in dem vor allem das Arbeitszimmer Alexander von Humboldts an den Autor des "Kosmos" erinnert.

Hausherr ist der Rechtsanwalt Ulrich von Heinz, der die Humboldtgesellschaft herzlich zu einem Rundgang durch Haus und Park empfing. Ehrfürchtig drängten sich die Besucher in diesem Arbeitszimmer, wo Ulrich von Heinz versuchte, die Atmosphäre aus klassizistischen Gipsabgüssen antiker Statuen und Reliefs aus Rom zu erklären, mit denen Alexander von Humboldt seine ästhetische und intellektuelle Verbundenheit mit der Antike unterstrich. Ein Besuch der Singakademie, der Parrochialkirche (der humboldtschen Pfarrei) und des Pergamonmuseums vervolltsändigten das Programm. Nur eines hätte man sich noch gewünscht: mehr junge Teilnehmer und Teilnehmerinnen.






Sonntag, 13. Mai 2012

Auftakt nach Maß



Foto: Reiner Pfisterer

Eröffnung der Ludwigsburger Schlossfestspiele, das war auch schon mal ein Drahtseilakt, nicht aber am Abend des 12. Mai, da war sie war ein voller Erfolg. Die einzelnen Teile passten perfekt zueinander und ließen Spannung und Vorfreude auf den weiteren Verlauf des Festivals aufkommen.Das Festspielorchester unter Leitung des Österreichers Christian Muthspiel begann mit einer poetischen Interpretation von Erik Saties "Gymnopédes" in der Orchesterbearbeitung von Claude Debussy. Feinfühlig, melancholisch und doch ausdrucksstark.
Dann sollte die Rede von Stéphane Hessel folgen, der wegen Erkrankung jedoch nur ein kurzes Grußwort hielt, das Intendant Thomas Wördehoff zwei Tage zuvor in Paris aufgenommen hatte: berührend, anrührend und auch beflügelnd in seiner Kürze und menschlichen Wärme. Vor allem das Versprechen des 94 jährigen, nächstes Jahr zu kommen, brachte spontanen Applaus.
Der Trompeter Ron Miles, Dieter Ilg am Kontrabass und Patrice Héral am Schlagzeug ließen sich durch eine Bearbeitung des Concierto de Aranjuez von Joaquín Rodrigo inspirieren. Gil Evans hat diese Bearbeitung dem Startromperer Miles Davis gewidmet, der mit der Trompetenstimme den Raum für Improvisation brauchte. Und diesen Raum nutzte Ron Miles auf kongeniale Weise. Dass die sanfte spanische Gitarre sich überhaupt in die Sprache der Blechbläser übersetzen  lasst, ist fast ein Wunder. Mitglieder des Festivalorchesters spielten bei diesem Stück die Rolle eines perfekten Chores im musikalischen Dialog mit den drei Solisten. Dieter Ilg fügte sich mit seinem Kontrabass wunderbar dezent und harmonisch ein. Der Franzose Héral streichelte seine Becken und Trommel mehr mit den Besen, als sie mit den Schlagfstöcken trommelnd durch die komplizierten  Rhythmuswechsel zu jagen: unerhört aufmerksam und sensibel, unerhört vielseitig.
Den furiosen Abschluss machte die Symphonie fantastique von Hector Berlioz. Das romantische Meisterwerk für großes Orchester entwickelte sich unter Muthspiels einfühlsamem Dirigat zu einer Kette von Steigerungen mit dem  Tutti "Traum eines Hexensabbatts" in maximaler Lautstärke. Spielfreude in Reinkultur und technische Perfektion waren da zu erleben. Das Publikum lohnte es mit lang anhaltendem Beifall und vielen Bervorufen.