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Sonntag, 6. März 2011

Buchtipp des Monats: "Herznovelle" von Julya Rabinovich

"Das Herz ist das Zentrum von allem, sagt er
ich fragte mich, was mein Zentrum ist
ich habe keines
er ist stellvertretend mein Zentrum
ich sage es ihm
er nimmt das Herz aus meiner Brust
und zeigt es mir und sagt:
Das gehört Ihnen,
Und ich sage:
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Das ist ein Traum. Und es ist Lebenswirklichkeit für die Ich-Erzählerin in der "Herznovelle" von Julya Rabinovich. Die handelt - ganz im Sinne der gattungsspezifischen "unherhörten Begebenheit" von einer Frau, die zu einer Herzoperation ins Krankenhaus kommt und sich in den Chirurgen verliebt. Das wäre noch nicht so arg unerhört, aber tragische Dimensionen erhält die Erzählung durch die nachhaltige Distanz des Angehimmelten. Dadurch "verspinnt" sich die Protagonistin mehr und mehr in eine innere Traumwelt, in der sie aktiver und lebendiger ist als draußen in der realen Wirklichkeit ihres behüteten Ehelebens. Sie lebt in geordneten Verhältnissen, und gerade die erscheinen ihr nach dem Klinikaufenthalt plötzlich wie der Tod, dem sie doch von der Schippe gesprungen ist. Voller Sarkasmus schildert sie ihre alte Welt:

"Bernhard ist bereit, meine Macken zu dulden, solange ich insgesamt funktioniere und der reibungslose Ablauf seines Alltags gewährleistet ist. Ich bin eine Maschine, der man - aufgrund ihrer Komplexität und des hohen Wertes - kleine Ausfälle einräumt. Das ist charmant und macht mich unverwechselbar. Solange das Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen gesichert sind, versteht sich. Dann die Geschäftsessen mit Freunden und Kollegen. Die Pflichttermine und die Bälle. Dazwischen darf ich verhaltensoriginell sein."

Das liest sich witzig, ist aber abgründig. Über diesem Zwiespalt wird sie zur Stalkerin, die den Gegenstand ihrer irrationalen Hingabebereitschaft ebenso betrügt wie ihren Mann, nur um diesem Arzt nahe zu sein: Sie täuscht einen Notfall vor und kommt wieder ins Krankenhaus, sie nimmt ihre Tabletten erst gar nicht und dann zu viele, sie lauert ihm auf und sucht die ersehnte Begegnung im Krankenzimmer, im Arztbüro und im OP. Doch das Objekt ihrer Begierde entzieht sich ebenso hartnäckig, also bleibt alles Fiktion, Wunschtraum und Tagebuch einer entstehenden Schizophrenie: "Mein Begehren ist ein Gewehr, das auf jemanden gerichtet werden will", heißt es einmal im Ton analytischer Schärfe. Und dann wieder klingt es bedingungslos sentimental und romantisch, aber auch sarkastisch: "Wenn Sie mich loslassen sterbe ich, sage ich". "Lassen Sie mich los", antwortet er.
Julya Rabinovich ist da ein großartiges Stück Literatur gelungen: Scharf beobachtet, mit Humor geschrieben, erotisch aufgeladen, in jeder Hinsicht souverän. Im Kern hat diese Frau, die ein Kugelblitz von Temperament und Simulanübersetzerin ist (russisch-deutsch), eine tief traurige Geschichte über die große "Sehnsucht nach einem Leben vor dem Tod" erzählt. Aber sie tut das ohne abgedroschene Klischees in ihrer Sprache oder beim Plot. Sie beherrscht perfekt jene überraschenden Untertöne und Zwischentöne (bzw. Farben und Fehlfarben), die sogar Banales spannend machen.
Diese Autorin ist ungewöhnlich und vielseitig: sie malt, sie hat zahlreiche Theaterstücke verfasst und erhielt 2010 für ihren Debütroman "Spaltkopf" den Rauriser Literaturpreis. Man darf gespannt sein, was als Nächstes kommt.

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