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Montag, 5. Dezember 2011

Verschwendung bei der Bahn

Nach den Erfahrungen mit Stuttgart 21 hat die DB anscheinend eine Bahnhofsphobie entwickelt und plant, künftig nur noch auf freier Strecke zu halten. Als Pilotprojekt des langsamen Abrückens von alten Bahnhofsgebäuden dient offenbar der Bahnhof von Fischen im Allgäu, die vorletzte Station vor dem Ende der beliebten Ski-Express-Züge von Stuttgart nach Oberstdorf.

Hier wurde kürzlich ein neuer Bahnsteig gebaut, der erst ca. 100 Meter südlich des alten Bahnsteigs beginnt, der noch dem Bahnhofsgebäude gegenüber lag. Der neue Bahnsteig ist nur über eine schräge Rampe erreichbar, bleibt aber trotzdem für alle derzeit eingesetzten Züge auf der Strecke noch immer deutlich zu niedrig.

Da in absehbarer Zeit keine Truppentransporte für militärische Auseinandersetzungen mit dem nahe gelegenen Österreich zu erwarten sind, fragt man sich auch, warum der Bahnsteig so riesig ist: ca. 500 Meter lang! Hier könnte ein ganzes Gebirgsjägerbatallion samt Mörserkompanie und Gepäck in Rekordzeit ein- oder aussteigen.

Wir waren in der Vorsaison dort, da stiegen nie mehr als 3 Leute gleichzeitig ein oder aus. An Spitzentagen mögen es 100 oder 200 sein. Wie riesig dieser Bahnsteig ist, zeigt ein Blick in Richtung Oberstdorf. Da müssen viele Hunderttausend EURO verbaut worden sein, und niemand hat etwas davon: ein "Schwabenstreich", der auch zeigt, dass es in der Provinz noch viel leichter ist als in der Stadt, unnütz Steuergelder zu verschwenden.

 

Samstag, 19. November 2011

Karl-May-Connections

Der 100. Todestag von Karl May am 30.März 2012 wirft lange Schatten voraus. Nicht nur in Form eines Theaterabends von Thomas Thieme (wen wundert´s: ein gefeierter DDR-Schauspieler und bekennender Karl-May-Fan) bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen 2011. Auch in allerhand neuen Büchern. Ein Job für Fährtenleser wie Old Shatterhand, Winnetou & Co:

 Was Rüdiger Schaper in seiner Biographie "Karl May - Untertan, Hochstapler, Übermensch" trotz vieler kluger Analysen übersieht: Die Verwandtschaften des Dichters aus Radebeul bei Dresden (ehemals DDR) reicht weiter als bis zu Franz Kafka. Der wählte sicher nicht zufällig den Namen Karl Roßmann für den traurigen Helden seines unvollendeten Jugendromans "Amerika" - Karl wie Karl May, Rossmann wie jener todesmutige Reiter Old Shatterhand alias Kara Ban Nemsi - , um naive Kinderträume zu personifizieren. Rossmann geistert weiter durch die Literaturgeschichte, als Schaper klar ist.

1.Antonio Muñoz Molina hat eben einen grandiosen 1000-Seiten-Roman über den spanischen Bürgerkrieg veröffentlicht. Darin spielt ein gewisser Karl Ludwig Rossmann eine große Rolle als Lehrer, bei dem die Hauptfigur Ignacio Abel am Weimarar Bauhaus Architektur studiert hat. Immer wieder er­innert sich Abel an das Bild seines jüdischen Lehrers im Leichenschauhaus des repubkikanischen, von Francos Faschistentruppen belagerten Madrid. Rossmann war erst aus Nazi­deutschland nach Moskau und von dort nach Madrid geflüchtet. Dort hatte der ehemals hoch angesehene Professor Füller repariert und verkauft, bis ihn irgendwelche Milizen als verdächtiges Subjekt erschossen. Abel hätte ihm vielleicht helfen können, wenn er früher gesucht hätte. Das ist also eher die Kafka-Linie: Rossmann / Roßmann als Inbegriff des glücklosen Deutschen, der im Ausland Rettung von einer stiefmüttlerlichen Heimat sucht und nicht findet.

2. Der Rossmann Kafkas musste in Amerika als Heizer schwitzen und arbeiten. Als Heizer in einem Stahlwerk schwitzte tatsächlich der bedeutende DDR-Autor Wolfgang Hilbig. Ein Arbeiterdichter der DDR, der in seinem Staat niemals anerkannt wurde und bis zu seiner Ausreise in den Westen immer Arbeiter blieb, der aber auch im Westen von seiner Trunksucht nicht geheilt werden konnte und sich depressiv zu Tode soff. Hilbig kannte sowohl Karl May als auch Kafka bestens. Den "Beruf" Rossmanns hat er sich wohl absichtlich so lange erhalten, um auf seine Underdog-Existenz hinzuweisen - eine Chiffre, für die nicht nur DDR-Behörden, sondern auch westliche Literaturktitiker zu dämlich waren. In Dresden-Radebeul kannte sich Hilbig ebenfalls aus, aber Karl May war in der DDR offiziell als "Schund-Autor" und Phantast verfemt, während man Hilbig übel nahm, dass er kritisch über ein "Arbeiter- und Bauernparadies" schrieb, das Unmwelt und Menschen kaputt machte. Da wären noch jede Menge Doktorarbeiten über Verbindungen möglich, wenn man denn Karl May endlich ernst nähme.

Freitag, 23. September 2011

Die Zukunft teilen

Ein Aufruf zur Erneuerung der Demokratie

Was treibt die jungen Leute auf der halben Welt gegenwärtig auf die Straße – und viele ältere dazu? Was haben die Demonstranten der arabischen Demokratiebewegung, gegen die Sparzwänge in Griechenland, gegen Studiengebühren von 3000 € pro Semester in London und gegen 40 Prozent Arbeitslosigkeit bei den unter 35jährigen in Spanien gemeinsam mit denen, die gegen Stuttgart 21 auf die Straße gehen? Was brodelt in China, Tibet, Indonesien und regelmäßig vor Wahlen auch in Russland? Bei allen Unterschieden verbindet diese Proteste das Gefühl einer „Generation Praktikum“, um ihre Zukunft betrogen zu werden.

Die Menschen lehnen sich auf gegen Regierungen, die ihren Wunsch nach Freiheit, Selbstbestimmung und einem Leben ohne Armut nicht ernst nehmen. Das können auch demokratische Rechtsstaaten sein – umso schlimmer. Denn die Demokratie ist politisch noch immer das kleinste aller möglichen Übel. Wir brauchen sie. Trotz aller Unterschiede und auch Abschottungsversuche: Die Globalisierung der Kommunikationsmittel und der Informationsmedien zeigt eben auch, dass die Menschen im Senegal, im Iran oder in Syrien, in China, Mexiko und bei uns fast immer das Gleiche wollen – und nicht bekommen.

Manchmal tun Vergleiche weh, und manchmal müssen sie das auch. Wenn Politiker oder Despoten mit dem Rücken zur Wand stehen, neigen sie wie ein Raubtier in der Falle zu irrationalem Verhalten. Das gilt aber auch für ganz normale Menschen, denen man zu lange Zeit jede Hoffnung auf eine Zukunft nimmt, die man glaubt, ewig an der Nase herumführen und ausnutzen zu können. Jeder Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht.

Am 20. Juni wurden nach der Montagedemonstration in Stuttgart Polizisten von Parkschützern zusammengeschlagen - eine traurige Entwicklung, die ich ebenso entschieden ablehne wie den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz gegen friedliche Demonstranten am 30.9.,2010. Aber ist an solchen Entwicklungen nicht hauptsächlich schuld, wer ständig provoziert und zündelt, wenn es um den so genannten Volkswillen geht? Wer sich hinstellt und sagt "Am 27. März ist Volksabstimmung über Stuttgart 21", diese Wahl verliert und danach sagt "Ihr könnt wählen, was ihr wollt, wir bauen trotzdem", hat ein gestörtes Verhältnis zum demokratischen Rechtsstaat. Seit Jahrzehnten beklagen wir die sinkende Wahlbeteiligung und das schrumpfende politische Engagement in Deutschland und Europa, tun aber nichts gegen die Legitimationskrise der politischen Führung. Wer sich trotzdem engagiert, ohne das in den engen rituellen Grenzen der Parteien zu tun, wird permanent frustriert. Die Urheber dieser Frustration müssen sich den Vorwurf der Brandstiftung gefallen zu lassen, weil ihr Verhalten zu Fanatismus und Intoleranz führt.

Natürlich sind mordende orientalische Despoten nicht dasselbe wie Repräsentanten einer verkommenen repräsentativen rechtsstaatlichen Demokratie; aber im Denken sind sich die Vertreter beider Gruppen ähnlicher als uns lieb sein kann. Sie haben ein seltsames Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat. Das war schon erkennbar, als Helmut Kohl sich offen weigerte, die Namen der Spender für illegale Parteikassen zu nennen. Es wurde überdeutlich, als Gerhard Schröder den russischen Präsidenten Putin einen „lupenreinen Demokraten“ nannte – einen früheren KGB-Mann, der keine Pressefreiheit duldet, Oppositionellen notorisch mit Gewalt begegnet und keine unabhängige Justiz will, sondern Richter als verlängerten Arm seiner Politik betrachtet. Ganz ähnlich wie Silvio Berlusconi. Lupenreine Demokraten? - Ich würde sagen: Nein, versaute Demokraten.

Leider haben solche Verirrungen demokratischer Volksvertreter eine lange Tradition, von der unseligen Neigung der USA, seit dem Schah von Persien ständig Diktatoren als Verbündete zu suchen, die sich dann wie General Noriega in Panama als Drogenhändler profilieren oder wie die Taliban ihre Waffen als religiöse Fanatiker gegen die edlen Spender selbst zu richten. Ganze Haufen von Despoten in Afrika und Lateinamerika wurden von westlichen Demokraten während des Kalten Krieges mit Know-How, Waffen und Geld unterstützt, weil diese „lupenreinen Damokraten“ eine hysterische Angst vor dem Weltkommunismus hatten.

Da aber, wo es noch Kommunisten gibt, in China und Nordkorea, macht man mit ihnen gute Geschäfte. Im Kampf gegen Al Quaida hat die CIA auf deutschem Boden am Rechtsstaat vorbei Verdächtige entführt und gefoltert. Deutsche Behörden haben dabei alle Augen zugedrückt, wie bei den undemokratischen Regimen in der arabischen Welt. Wäre es anders, dann hätten sich z.B. Berlusconi und Ghaddafi nicht als Duzfreunde in den Armen gelegen und gäb´s auch keine Shake-Hands-Fotos von Guido Westerwelle oder Angela Merkel auf Antrittsbesuch bei Mubarak und Ghaddafi.

Lange Zeit hat die arabische Welt – völlig zu Recht – dem Westen vorgeworfen, mit gespaltener Zunge zu sprechen, wenn es um Bürger- und Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat geht. Wir haben schizophren gelebt und müssen endlich damit aufhören. Wir haben davon profitiert, dass wir vorne den gesetzestreuen Bürger spielen und hinten von unserer ganzen Lebensweise Lügen gestraft werden. Und wir müssen aufhören, uns für etwas Besseres zu halten als die anderen. Nur so können wir lernen, die Zukunft auf diesem Planeten miteinander zu teilen: indem wir die Demokratie erneuern. Sonst gibt es keine Zukunft für die Menschen dieser Erde.

Ich möchte hier ein paar Forderungen stellen, die zwar nicht gleich die Welt retten werden, aber wenigstens in Deutschland und Europa zu einer Erneuerung der Demokratie führen könnten. Für mich allein ist dieses Vorhaben zu groß. Deshalb möchte ich alle Leser bitten, meine Thesen nur als Anfang zu betrachten und durch eigene Vorschläge zu ergänzen. Vielleicht kommen wir ja auf 21. 

  • 1. Mehr gesetzliche Kontrolle über die politischen Parteien. Artikel 21 (1) des Grundgesetzes sagt: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Nirgendwo steht dagegen, dass sie bestimmen, wo es lang geht. Vielmehr heißt es weiter: „Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen“. Was das heißt, ist im Parteiengesetz unzulänglich geregelt, solange die dritte Forderung des Grundgesetzes nicht erfüllt ist: „Sie müssen über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft geben.“ Dagegen wird permanent verstoßen, wenn Parteispenden erst ab einer bestimmten Höhe transparent gemacht werden und Abgeordnete „Nebentätigkeiten“ in irgend einer Form verschweigen dürfen.
    • 2. Reform des Wahlgesetzes für Abgeordnete. Die Benachteiligung von gewöhnlichen Angestellten und kleinen Handwerkern, Kaufleuten oder Selbständigen gegenüber Beamten, Unternehmern und reichen Erben bei der Kandidatur für Parlamantswahlen verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung. Geändert werden muss vor allem das Recht auf bezahlten Urlaub für den Wahlkampf und das Recht auf Rückkehr in den alten Beruf nach dem Ausscheiden aus einem politischen Amt vor dem gesetzlichen Rentenalter.
    • 3. Volksentscheid über eine Verfassung. Artikel 29 (2) des Grundgesetzes bestimmt: „Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen durch Bundesgesetz, das der Bestätigung durch Volksentscheid bedarf.“ Noch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands warten wir vergeblich darauf. Die Furcht vor Elementen der direkten als Ergänzung der repräsentativen Demokratie führt zum Verfassungsbruch und gefährdet die Erneuerungsfähigkeit des demokratischen Rechtsstaates.
    • 4. Steuerreform. Ehrliche Arbeit muss sich (wieder) lohnen, aber nicht jede Form von Selbstverwirklichung, Spekulationen oder gar Kriminalität. Abschaffung der „kalten Progression“, die bei Brutto-Lohnzuwächsen unterhalb der Inflationsrate gerade Geringverdienern permanent reale Einkommenseinbußen beschert. Im Gegenzug sind die Steuern auf höhere Einkommen angemessen zu erhöhen (zusammen mit den Sozialabgaben auf maximal 50 % aller Einkünfte – wie beim kleinen Steuerzahler auch). Wenn die der öffentlichen Haushalte ausgeglichen sind, ist diese Belastung gleichmäßig zu reduzieren.
    • 5. Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen bei der Sozialversicherung. Es ist ungerecht, dass Klein- und Mittelverdiener im Schnitt 35 Prozent ihres Bruttoeinkommens für Renten- und Krankenversicherung zahlen und die Gut verdienenden Spitzenkräfte nicht im Verhältnis zu ihren Einkünften belastet werden. Abgesehen davon dürfte die Abschaffung dieses Ungleichgewichts auf lange Sicht alle Liquiditätsprobleme der Sozialversicherungen lösen.
    • 6. Steuern auf Spekulationsgewinne und Börsentransaktionen. Wer soll das durchsetzen wenn nicht die großen Wirtschaftsnationen? Hier tut sich ein lohnendes Feld für die Außenpolitik auf.
    • 7. Härtere Strafen bei Schwarzarbeit. Durch Schwarzarbeit entgehen der Gemeinschaft jährlich viele Milliarden Euro. Ähnlich wie bei der Steuerfahndung muss das Fachpersonal aufgestockt werden, damit die Gesetze auch durchsetzbar werden.
    • 8. Verbot jeder bezahlten Nebentätigkeit für Politiker. Auch höhere Beamte in Ministerien, Gewerkschaftsfunktionäre, Professoren, Bürgermeister und andere Funktionäre mit einem guten Einkommen dürfen keine Arbeitsplätze mehr für Menschen ohne Arbeit blockieren – abgesehen von zahlreichen möglichen Interessenkonflikten durch den verbreiteten Lobbyismus in der Wirtschaft.
    • 9. Anti-Lobby-Gesetze. Keine Drehtür zwischen Wirtschaft und Politik mehr. Dass Vertreter der Wirtschaft auf Staatskosten (und oft mit zusätzlichen Gehältern der Industrie) in Ministerien arbeiten, um als „Berater“ angeblich Fachwissen zur Verfügung zu stellen, muss in der gegenwärtigen Form verboten werden: entweder oder – keine unterschiedlichen Loyalitäten mehr. Wenn Fachbeamte gebraucht werden, kann man die Stellen schaffen.
    • 10. Schluss mit jeder Form von Klientel-Politik. Rücksichtslose Klientelpolitik lässt nicht nur in Griechenland und auf dem Balkan ganze Branchen (Bau, Bildung, Kfz, Gesundheit, Pharmaindustrie, Energieversorgung u.a.) zum Selbstbedienungsladen für Kapitalisten, Lobbyisten und korrupte Funktionäre verkommen. Sie verhindert z.B. gezielt die Entwicklung regenerativer Energien und Einsparungen bei explodierenden Gesundheitskosten oder setzt ökologisch und ökonomisch unvernünftige Anreize – z.B. für den Kauf von „Panzern“ wie die Geländewagen von Porsche, VW, Mercedes, BMW, Toyota u.a. Herstellern, die höchstens Ranger in den Bergen brauchen, aber keine Stadtbewohner. Oft wird damit argumentiert, andernfalls gingen Arbeitsplätze verloren. In Wirklichkeit aber arbeiten viele Menschen an falschen, unproduktiven und ökologisch unsinnigen Stellen und könnten Sinnvolleres tun.
    • 11. Gemeinwohl geht grundsätzlich vor Eigennutz. Eine Stimmung in der Öffentlichkeit, die Polarisierung fördert und dem Gemeinwohl schadet, darf nicht durch politische Beratergremien (z.B. die „Wirtschaftsweisen“) oder Medien propagiert werden, die erkennbar ideologisch orientiert und an der Durchsetzung von Gruppeninteressen interessiert sind.
    • 12. Selbstkritisch eigene Positionen hinterfragen. Wem bin ich vorrangig verpflichtet – dem Grundgesetz, dem Gemeinwohl und oder den Grundsätzen einer religiösen oder philosophischen Ethik (Moral) – oder einer Partei, einer Interessengruppe bzw. dem puren Eigennutz? Haben vielleicht große Teile der SPD, reiche Salonkommunisten und Zig-Tausende von Millionenerben jeden Bezug zur sozialen Realität verloren und alles verraten, wofür sie einmal angetreten sind? Haben nicht viele Pfarrer, Gemeinderäte und christlich erzogene Menschen die praktische Nächstenliebe der Linken überlassen und das biblische Eintreten für Gerechtigkeit einem strammen Parteienfilz geopfert?
    • 13. Schluss mit dem Abbau von Sozialstandards und Arbeitnehmerrechten. Strukturelle Korruption hat viele Gesichter. Wir sollten da nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigen. Ist es für mich in Ordnung oder akzeptabel, dass ein staatsnahes Unternehmen 80 Prozent der Mitarbeiter prekär beschäftigt – in unfreiwilliger Teilzeit, befristet oder zu Dumpinglöhnen und als ausgenutzte Praktikanten, die vollwertige Arbeit leisten, aber weniger verdienen, als zum Leben nötig ist – nur um 20 Prozent fest angestellter Mitarbeiter mit Privilegien wie einem guten Gehalt, Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie großzügiger betrieblicher Altersversorgung finanzieren zu können? Ist meine Gewerkschaft ein Schutzverein für Arbeitsplatzbesitzer und überlässt die anderen der sozialen Kälte – nicht zuletzt die eigenen Angestellten?
    • 14. Schluss mit Lebenslügen und überzogener Gier. Haltungen, die unter Missbrauch des Rechts auf Eigentum auch noch steuerlich gefördert werden (als ob nicht in der Verfassung stünde, dass Eigentum verpflichtet), machen weder volkswirtschaftlich noch betriebswirtschaftlich Sinn. Der „Markt“ muss nicht jeden Unsinn erlauben oder rechtfertigen. Der ehemalige Bankdirektor, Anlageberater und heutige Krimi-Autor Bernd J. Fischer schreibt aus eigener Erfahrung in seinem Roman „Das Bild“ (Nora Verlag, Westerheide, 2011, S. 165): „Die Gier stand in Korrelation mit der Höhe des Vermögens. Je mehr die Klienten hatten, umso spitzer wurden ihre Raffzähne. Ein sehr sympathisches Ehepaar Ende 70, kinderlos und mit einem Vermögen von rund 30 Millionen €, lebte in ständiger Verarmungsangst und hatte vom Frühstück bis zum Abendessen nur ein Gesprächsthema: die Börsenkurse.“
    • 15. Direkte Demokratie fördern. Artikel 1 (1-2) der Verfassung des Landes Baden-Württemberg ist ein erstaunliches Beispiel für angewandte christliche Theologie in der Politik: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.“ heißt es da. Und weiter: „Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei zu dienen.“ Dem wäre kaum etwas hinzuzufügen außer der Feststellung, dass es sich hier nur um einen frommen Wunsch handelt. Wie sich diese Position mit der hohen Hürde von einem Sechstel der Wahlberechtigten vereinbaren lässt, um überhaupt den Willen des souveränen Volkes in einem Volksentscheid erkunden zu dürfen, bleibt eine offene Frage. Die Furcht vor dem Volk scheint hier besonders tief zu sitzen. Wer aber den Mut nicht aufbringt, solche Hürden niedriger zu machen, gefährdet die repräsentative Demokratie als Ganzes. In Bayern herrscht auch nicht der Antichrist, bloß weil dort Volksentscheide wesentlich leichter sind.
    • 16 Ehrlichkeit und Transparenz wieder zu politischen Tugenden machen. Je aufwändiger die Pseudo-Teilhabe in öffentlichen Anhörungen oder „Schlichtungen“, desto tiefer hinterher die Frustration, wenn die Gängelei der angeblich mündigen Bürger munter weiter geht. Niemand sitzt unbezahlt tagelang in öffentlichen Informationsveranstaltungen und studiert wochenlang Protokolle und Fachgutachten, um sich dann wieder an der Nase herumführen zu lassen. Teilhabe muss echt sein, oder sie ist eben nicht.
    • 17. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip. Nationale Innenpolitik hat Vorrang vor den Mächten der Globalisierung. Der Weltwährungsfonds, die Weltbank, die Europäische Union und andere internationale Gremien haben nicht das Recht zur Einmischung in die Wirtschafts- und Sozialpolitik, das Arbeitsrecht und das Strafrecht von Nationalstaaten. Sie sind aufgerufen, auf die Grundlagen des Abkommens von Bretton Woods zurückzukehren, dem die Weltwirtschaft eine nie dagewesene Blüte verdankte, Multinationale Konzerne allerdings gewisse Einschränkungen beim freien Welthandel und beim unkontrollierten Geldverkehr. Andernfalls wird der Rechtsstaat ebenso unterlaufen wie demokratische Entscheidungen.
      "Durchgfriffsrechte" und andere Einschränkungen staatlicher Souveränität durch die EU bedürfen zwingend der Voraussetzung von mehr Demokratie in Europa. Das Parlament braucht vergleichbare Rechte wie in Frankreich oder Deutschland. Ohne parlamentarische Kontrolle und Gewaltenteilung sind die Aktionen, Programme und Gesetze der Kommissare nicht mehr demokratisch legitimiert.


    Sonntag, 4. September 2011

    Liechtenstein-Preis für Marica Bodrozic
















    Am 26. März 2011 erhielt die Berliner Autorin Marica Bodrozic den Liechtenstein-Lyrikpreis des PEN-Clubs Liechtenstein. Stolz präsentiert sie hier im Schlösslekeller von Vaduz die Preisurkunde (immerhin dotiert mit 15 000 Franken), eingerahmt vom scheidenden Präsidenten des PEN-Clubs Liechtenstein, Manfred Schlapp, und seiner Nachfolgerin Antje Ellermann.

    Ich durfte die Laudatio halten, die hier nachzulesen ist:

    Verse, die zittern wie Gras im Wind
    Liechtenstein-Lyrikpreis für Marica Bodrožić, 26.03.2011
    Es gibt einen Teil in der klassischen Lobrede, den ich möglichst schnell hinter mich bringen möchte. Es ist der biografische. Denn erstens ist die Dichterin, um die es hier geht, noch jung. Und zweitens war ich mit ihr weder im Sandkasten noch in der Schule noch auf der Universität zusammen. Wir leben nicht einmal in derselben Stadt. Ich habe sie nur ein Mal persönlich gesehen: sehr kurz auf einem Literaturfestival, und da wurde sie krank. Kein Gespräch also. Wenn ich sagen soll, wer die Lyrikerin ist, die den Liechtenstein-Preis 2011 bekommt, muss ich daher zunächst auf Angelesenes verweisen:
    Marica Bodrožić wurde 1973 in Svib geboren. Das ist ein Dorf in Kroatien, genauer in Split-Dalmatien – da, wo das Eis her kommt. Laut WIKIPEDIA lebten 2001 in Svib 641 Menschen. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr wuchs Marica Bodrožić bei ihrem Großvater in Dalmatien auf, lernte also noch ein bisschen den real existierenden Sozialismus kennen. Erst 1983 zog sie zu ihren Eltern, die bereits als Gastarbeiter in Deutschland lebten. Heute lebt auch sie in Berlin – als freie Schriftstellerin.
    Ihre Erzählungen und Gedichte verarbeiten bisher zu einem großen Teil ihre Kindheitserinnerungen und ihre Sicht auf die Veränderungen in ihrer Heimat. Und das ist jetzt wirklich interessant: als ihre Wahlheimat bezeichnet sie die deutsche Sprache. So etwas kommt nur selten vor.
    Marica Bodrožić wurde schon mehrfach für ihre Arbeiten ausgezeichnet, aber noch nie für ihr lyrisches Werk. Beim Salzburger Otto Müller Verlag sind aber inzwischen drei Gedichtbände von ihr erschienen - zuletzt im Februar 2011 "Quittenstunden". Quitten sind gelb, eine Farbe, die für die Dichterin schon ganz zu Anfang wichtig war. In ihrem Debütbändchen steht:

    Ich will an die Seligmachung schreiben. An die Herzmitte der gelben aller Farben.“
     
    Aber Halt: Ich bin zu schnell, zu ungeduldig. Vielleicht macht ja jemand Notizen, und ich habe etwas Wichtiges übersprungen. Es wäre unhöflich, bei so einem Anlass einfach über bisherige Buchveröffentlichungen hinwegzugehen. Das waren:
    • Tito ist tot“, Erzählungen, Frankfurt / Main 2002
    • Der Spieler der inneren Stunde“, Roman, Frankfurt / Main 2005
    • Meine Ankunft in Wörtern“. Frankfurt / Main 2007
    • Ein Kolibri kam unverwandelt“, Gedichte, Salzburg, 2007
    • Der Windsammler“. Erzählungen, Frankfurt / Main, 2007
    • Lichtorgeln“, Gedichte, Salzburg, 2008
    • Das Gedächtnis der Libellen“. Roman, München, 2010
    • Quittenstunden“, Gedichte, Salzburg 2011
    Schon 2002 erhielt sie den Heimito-von-Doderer-Preis, und 2003 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis der Robert Bosch Stiftung, nur zum Beispiel. Ein Lyrikpreis ist noch nicht dabei. Ich finde aber, dass selbst ihre Prosa pure Poesie ist. Und damit komme ich zu meinem bescheidenen Versuch, zu begründen, warum Marica Bodrožić meiner Meinung nach den Liechtenstein-Preis mehr als verdient hat.
    Dazu möchte ich eine kleine Geschichte erzählen. Auf Seite 367 seines ebenso unterhaltsamen wie klugen Journals „Zu früh – zu spät“ beschreibt der Salzburger Autor Karl-Markus Gauß mit seinem kenntnisreichen Engagement für die Minderheiten Europas die Jenischen, wie man in Tirol, in Süddeutschland und in der Schweiz ein fahrendes Volk nennt, das auch als Vagabunden oder „weiße Zigeuner“ bekannt ist – oder eben eher unbekannt. Gauß hat herausgefunden, dass die Sprache der Jenischen sich aus Elementen des Deutschen, Jiddischen, Rotwelsch und Romanes zusammensetzt und ständig neue Wörter bildet. Und dann fährt er fort:
    Für „Telefonieren“ ist im Jenischen etwa ein Wort erfunden worden, das wörtlich im Deutschen soviel wie „Fernküssen“ bedeutet.
    Marica Bodrožić kennt und schätzt Gauß. - Aaha!, dachte ich. Aber sie hat mir glaubwürdig versichert, dass sie davon keine Ahnung hatte, als sie schrieb:
    Mit der Stimme küssen, das muss ein Anruf sein.
    Ein Parlograph des Herzens, ganz nah und ganz Vogel
    zugleich.
    Sie ist von allein drauf gekommen, auf dieses poetische Bild vom Fernküssen; das ist ihr Job als Dichterin, aber das hätten ja auch schon andere vor ihr finden können. Sie hat also eine ungewöhnlich feine Antenne für solche Möglichkeiten und hat sich deren Umsetzung in die deutsche Sprache erworben und erarbeitet. „Da soll noch einmal jemand sagen, dass solches Können nichts mit Kunst zu tun hat!“, dachte ich und bekam Lust, diese Dichterin zu interviewen. Am Telefon – sie im SWR-Hauptstadtstudio Berlin, ich in einem Studio in Baden-Baden. Wir haben uns also doch schon etwas besser kennen gelernt: „Irgendwie“ durchaus zeitgemäß, virtuell, durch Lektüre, E-Mails und telefonisch. In dem erwähnten Telefoninterview sagte sie auch etwas davon, Poesie müsse rebellisch sein. Da bin ich ganz ihrer Meinung, mindestens.
    Noch etwas war ihr wichtig: die Liebe zu Hölderlin, zur Romantik und zum Gefühl, das unserer Ansicht nach heute bei vielen Dichtern zu kurz kommt, weil es manche gern verbieten würden. Auch das hat mir sehr gefallen. Übrigens: Das Interview dauerte knapp 7 Minuten, und 7 mal kam darin das Wort „tief“ vor – 5 mal mit dem Attribut „ganz“ oder „so“. Anscheinend erinnert sich diese Autorin ein Mal pro Minute daran, dass sie nichts mehr verabscheut als Oberflächlichkeit.
    2007, als beim Otto Müller Verlag in Salzburg ihr erster Gedichtband erschien, hatte ich spontan das schwer erklärbare Gefühl, da sei etwas Besonderes geschehen, etwas Großes, etwas das bleibt. Schon der Titel war seltsam und hatte etwas Flirrendes, Schwirrendes, Sirrendes und doch – nein, nicht Irrendes, aber durchaus Verwirrendes, Irritierendes: “Ein Kolibri kam unverwandelt“.
    Wenn Marica Bodrožić über so etwas Alltägliches schreibt wie ein Telefongespräch, entsteht ein erotisches Gedicht mit philosophischen Fußnoten. Sie findet sinnliche Bilder für abstrakte, sogar technische Vorgänge, webt Leichtigkeit in Schwermut und umgekehrt, hebt das banal Persönliche durch Rhythmus und Tonfall ins Liedhaft-Allgemeingültige. Der Lyrikband „Ein Kolibri kam unverwandelt“ ist schmal: Gerade mal 87 Seiten, aber die haben es in sich. Sie können wirklich etwas auslösen im Leser. Zitat:

    Das vielfache Küssen verlängern, die Masten sich selbst
    Überlassen.... Das holt die Stimme
    alles wieder zurück. Die Traumnachbarschaft seiner Stirn!
    Und mit ihr die Vorstellung: die Bilder des geliebten
    Menschen ruhten sich jetzt in unserer Schlafhand aus,
    kämen endlich nach Hause und frühstückten mit uns,
    an unserem Tisch, an dem auch die Krumen
    Liebe fürs Fliegen sind.
    Ein Migrantenschicksal schob diese Autorin quer durch die politischen und kulturellen Systeme, wie es zu Zeiten des real existierenden Sozialismus häufig vorkam. Ungewöhnlich höchstens die gute Schulbildung, die sie genoss. Und auch ihre Universitätsstudien: Nicht Germanistik (das hätte man ja meinen können, wenn jemand Schriftsteller werden will).
    Nein: sie studiert Slawistik, da bilde ich mir ein, Selbstvergewisserung zu erkennen. Sie studiert vergleichende Kulturwissenschaften, Psychoanalyse. Sie sie will verstehen, was um sie herum vorgeht und was passiert in der Welt. Sie sucht die Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft, aber sie will auch ganz im Hier und Jetzt ankommen, in der deutschen Sprache.

    Nach ihrem ersten Erzählband „Tito ist tot“ erschien 2005 bei Suhrkamp auch ihr Roman „Der Spieler der inneren Stunde“. Dabei hat sie, wie so viele Autoren, mit Gedichten angefangen. Deren Veröffentlichung begann erst mit dem Erfolg der Prosa im Rücken. Auf die Frage nach dem Warum sagte sie 2007:

    Weil sie einfach ganz tief zu mir gehören und weil ich immer Gedichte schreibe. Weil im Grunde genommen meine Art, die Welt zu erleben, eigentlich ständig in Rhythmen zu denken ist. Und da bleibt es nicht aus, Gedichte zu schreiben“.
    Damit ging die mehrfach preisgekrönte Suhrkamp-Autorin zum Otto Müller Verlag in Salzburg. Dort hat man vermutlich mehr Sinn für ihre geistigen Wurzeln. Die verraten sich weniger im Migrantenschicksal, sondern mehr durch Widmungsgedichte, etwa für die Mystiker Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz. Über die sagt Bodrožić:

    Diese beiden Menschen waren große Liebende, große Liebende des Wortes, große Menschen auch. Das muss einen Echoraum in jedem Menschen hinterlassen, der etwas mehr wissen will von der Welt. Und für mich ist Welt eben nie nur die äußere Welt“.
    Liebe und Wissen sind ihre großen Themen, Freiheit, Einsamkeit, Erinnerung und Tod. Licht und Farben spielen eine große Rolle bei Marica Bodrožić, eigene Wortschöpfungen, erfrischend oft eine Portion Ironie. Ihre Bildmagie zeigt Nähe zu Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Sarah Kirsch. Im Unterschied zu denen aber verbindet diese Autorin ihr Gefühl fast immer mit einem Element des Erzählens. Sie hat das auch schon früh definiert und analysiert, wie man das eben lernt, wenn man Psychoanalyse studiert. Zitat:

    Ich kann nicht anders. Es treibt mich dazu, und es gibt so eine metaphysische Erfahrung: Dass das Geschichtenerzählen und das Gedicht, also der Gesang, ganz tief zueinander gehören, und dass das der Ursprung aller irdischen Sprache ist. Und deswegen gehört das Erzählen für mich auch immer in die Gedichte hinein“.
    Ihre Kronzeugen sind die Ilias von Homer, das Rolandslied, das Nibelungenlied, Hölderlin, der Große Gesang eines Pablo Neruda: Große Dichtung, Kollektivbesitz, Weltkulturerbe, undenkbar ohne den hohen Ton, den Stefan George und Durs Grünbein so in Verruf gebracht haben. In guten Gedichten aber rechtfertigen Inhalte diesen Ton und nehmen oft eine unerwartete Wendung:

    Jeder Zeh ein Kitzelgebiet
    aus der Zeit vor der Zeit, bevor der Eiszeitmensch
    sich in seine Zukunft als Somali, Kroate, Ägypter und
    Astronaut aufmachte. Andernorts hinter den Milchstraßen,
    Korrespondenzen. Und all dieser Verkehr von Wörtern
    und Hufen und Stillehöfen und Liebesfäden. All dieses
    eine Wir, an dem jeder ausgesprochene, jeder ausgedachte
    Buchstabe mitwebt. Engel, Mensch, Tier, verwaist
    in der Einöde der Zeit.

    Für einen Augenblick sehe ich, wenn ich diese Zeilen lese, innerlich ein greises Kind mit weit aufgerissen Augen angesichts all der berechtigten Sehnsüchte, Menschheitsträume und gebrochenen Versprechen, der Hekatomben von Tierpopulationen und Menschenvölkern in dieser seltsamen, grausamen und wunderbaren Welt. Woher so viel Wissen in einem für Literaten noch zarten Alter? Diese junge Autorin besitzt ein Wissen des Herzens, das den Lebensjahren weit voraus eilt. Neben allerlei Formalitäten der deutschen Sprache und Poetik macht sie eben dieses Wissen zu einer wahren Dichterin.
    Dadurch ist sie den vielen wortgewandten Winkeladvokaten der Medien-und Bühnenshow, der Comedy und der Poetry-Slams unendlich überlegen, finde ich. Wie kompromisslos poetisch Marica Bodrožić denkt und schreibt, zeigt auch ihre Prosa. Ein Beispiel dafür sind die Erzählungen in dem Band „Der Windsammler“ von 2008.
    Was ist eine Lichtharfe, eine Luftorgel oder eine Brustlaterne? Ein Traumhüter oder ein Bildinspektor? Seltsame Wörter und Wesen bevölkern die elf Erzählungen dieses Buches. Vordergründig sind es elf Ausflüge auf Inseln vor der Küste von Dalmatien, in die mediterrane Welt ihrer Kindheit. Dieses Inselbuch der gebürtigen Kroatin, die körperlich in Berlin und geistig in der deutschen Sprache lebt, erzählt aber von mehreren Wirklichkeiten, die sich gegenseitig durchdringen: Sagen, Märchen, Erinnerungen, Träume, Begegnungen.
    Oko der Windsammler, die Titelfigur der Titelgeschichte, ist ein Junge von der Insel Pag (sprich: Paag), der bei Nacht mit seinem Panamahut den Wind fängt und bei Tag einen schwarzen Lippizanerhengst sucht, den ihm der Erzengel Raphael gestohlen hat. Weshalb es auch heißt, er sei nicht bei Verstand. Zitat:

    Er lebt in keinem Luftschloss, das nicht, sagte die vertraute Stimme, aber er lebt mit verknüpften Sinnen. Die Forscher betrachteten täglich ihre Tabellen. Man gab sich Zettel in die Hände, schaute zum Plafond, es wurden Entscheidungen getroffen. Verknüpfte Sinne, das kannten sie nicht. Heilanstalt war das Wort, das die Forscher erst leise und dann mit Nachdruck, wie zur Selbstversicherung aussprachen. Wie alle Wörter, die einmal ausgesprochen sind, entwickelte das Wort seine Wirkung und forderte, eingelöst zu werden. Wörter sind Zauberkundige. Wörter sind Stellvertreter des Menschen.“

    Manche dieser Erzählungen haben eine Handlung, manche sind mehr Beschreibungen seelischer Zustände. Besonders liebt die Autorin archaische, surrealistische Parabeln – Geschichten „aus der Welt hinter der Welt der Welt“, wie sie sagt. Solche Wendungen sind typisch für Marica Bodrožić. Aus der scheinbar überflüssigen Wiederholung, die erst wie eine kleine sprachliche Unsicherheit wirkt, entsteht eine ungewöhnliche Betonung, die uns verzaubert.
    In diesen Erzählungen kommen zwar Vater, Mutter, Schwestern, Freundinnen vor, aber sie sind nicht autobiografisch. Splitter der sozialen und historischen Realität vermengen sich mit träumerischen Erfindungen, Landschaftsbildern und Elementen der wissenschaftlichen Abhandlung zu etwas Neuem, Vielschichtigem. Das bleibt ganz gern auch einmal rätselhaft. Immer aber ist diese Sprache sinnlich und poetisch, auch da, wo in perspektivischer Brechung Zeitgeschichte darin vorkommt. Diktatur, Krieg und Emigration in Jugoslawien streift die Autorin nur, aber in eindringlichen Bildern. Zitat:

    Als meine Schwester Ada und ich nach Jahren des Wegbleibens auf die Lange Insel zurückgekommen waren, hat uns der offenbar auf dem Schiff mitgereiste Bildinspektor verdächtigt, eine Lichtharfe und andere mehrdimensionale Gegenstände zu besitzen. Er sagte es uns gleich am Hafen, eine Lichtharfe dürfe es auf der Langen Insel nur geben, wenn man sie registrieren lasse… Wir nahmen unsere Koffer in die Hände, um nach Hause zu gehen. Der Bildinspektor sagte, ich weiß, dass Sie lange nicht auf der Langen Insel waren. Zehn Jahre, sagte ich. Er lächelte mich auf eine Art an, als hätte ich die Hälfte unterschlagen.“

    Durchaus unbotmäßiges, sogar subversives Phantasiefutter liefern diese Erzählungen. Von einem Verbotstraum ist die Rede, der um sich greift und von dem Kinder noch nichts wissen, von nächtlichen Versammlungen der Träumer. Der jugoslawische Archipel GULAG wird in der Erinnerung eines Mannes lebendig, der auf der ehemaligen Gefängnisinsel die Spur seines Vaters sucht. Und eine politische Satire erzählt die Geschichte von der „Rache des Damhirsches“ aus Titos Jagdrevier. Weil es keine Zäune mag, erscheint das Tier dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht im Traum und verändert den Lauf der Geschichte.
    Etwas Kafka, etwas Chagall, und gelegentlich zwei Tropfen politischer Satire nach Art eines Kurt Tucholsky: Irgendwo in den Geschichten dieser Autorin könnte immer ein Engel durch die Luft fliegen. Es sind Geschichten, die der Wirklichkeit gern ein Bein stellen und mit der Freude eines großen Kindes neue Wörter ausprobieren.

    Anfang 2008, gleichzeitig mit den „Windsammler“-Erzählungen, erschien der zweite Lyrikband von Marica Bodrožić. Und einerseits waren die Texte in „Lichtorgeln“ eine Fortschreibung dessen, was bei mir jene fast pubertäre Entdeckerfreude ausgelöst hatte; andererseits aber trieb sie die Sprache hier schon dermaßen an die Grenzen ihrer selbst, ins Niemandsland zwischen lyrischen und prosaischen Regelwerken, dass ich schon fürchtete, wir würden eine Lyrikerin verlieren. Wo sollte das nur enden: In Schweigen? In amorpher Beliebigkeit oder in halluzinierenden Beschwörungsformeln? Im stromlinienförmigen Mainstream-Blabla von Facebook? Doch schon die erste Zeile hatte auch etwas Beruhigendes für mich:

    DIE MELANCHOLISCHEN MÄDCHEN sind für immer ausverkauft.“

    Gut. Es würde also weitergehen. Die Gedichte in „Lichtorgeln“ wirken wie lyrische Verdichtungen der Erzählungen im „Windsammler“, schon rein äußerlich, optisch wie poetologisch.
    Den weitgehend fehlenden Zeilenbrüchen entspricht eine rhythmische Entgrenzung der sprachlichen Form. Hier wie dort spiegelt sich die gegenseitige Durchdringung von Träumen, Bobachtungen, Märchen und autobiographischen Alltagsbezügen in einer Vermischung unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen und Stilmittel. Mehr denn je zeigte sich auch hier: diese Autorin erzählt auch in Gedichten gern Geschichten, und ihre Prosa ist poetisch durch Bildhaftigkeit und Tonfall:

    HINTER DEM KNORRIGN OLIVENBAUM, das Singen der Zeit. Die Sonne schreibt das Blatt. Das Meer reicht der Olive die Hand. Der Mediterran, mein Ursprung in die heitere Beständigkeit. Eine Lichtorgel aus gesiebten Stunden, ungefeierten Kindergeburtstagen und den nach Australien ausgewanderten Nachbarn: Der Kaffee serviert sich von selbst, ungeachtet der Nostalgie, der Verwirrungen und Tränen. Das Rätsel für das Kind: Wie haben sie alle zusammen das Meer erwandert? Über das Meer gehen, das kann doch nur EINER!“

    Zum Bodrožić-Kosmos gehören mediterranes Licht, Heiterkeit, Traurigkeit, Kindheitserinnerungen, das Rätsel der Zeit und Dinge, die sich selbständig machen. Die „Lichtorgeln“ aus dem Titel sind keine Lichtmaschinen in Diskotheken, sondern eine mehrdimensionale Metapher, die sich der Eindeutigkeit entzieht. Und doch klingt der rhythmische Wechsel der Gemütsfarben mit. Auf ihren Lichtorgeln spielt die Autorin alle Tonleitern durch – zwischen Realismus und Märchen, Scherz und Ernst. Zitat:

    VOR MEINEM FENSTER waren Lichtorgeln aufgestellt worden, das Baugerüst hatte man abgenommen. An den Orgeln hingen viele Menschen… Arme waren zu sehen, Ohren, Füße, mit und ohne Schuhe, ganz viele Augen, eine Augenwoge schaute in mein Zimmer. Was macht ihr da!, fragte ich, etwas unbeschwingt, das ist doch mein Fenster. Schließlich war durch den Betrieb an den Lichtorgeln der ganze Himmel verdeckt, ich sah nicht einmal mehr die Bäume von gegenüber, selbst die Wipfel schienen etwas von mir Erdachtes zu sein.“

    Eltern, Geschwister, Marilyn Monroe, Katharina von Siena, Frida Kahlo, Virginia Woolf, Marina Swetajewa, Teresa von Avila und Ingrid Bergmann finden sich im Gespräch miteinander und mit dem lyrischen Ich – und daraus wird niemals nur oberflächliches Geplapper oder sinnloses Durcheinander. Das will die Abgründe zwischen Zeiten und Welten überspannen wie die Brücke von Mostar und bietet vieles, nur keine Sicherheit. Zitat:

    Verlasse dich nicht auf das lyrische Ich. Es ist erfunden. Aber: natürlich, nur dort ist es zuhause. Quer zwischen meinen sechs Leben liegt eine hingedachte Brücke. Die Welt zeigt sich als Zwischenwelt.“

    Wortschöpfungen leuchten auf: „Lichthandel“, „Angstmonarch“, „hängende Luftaltäre“, „Herzlücken“, „Hautnachbarschaft“, eine „gemandelte Trauer“.

    Viele der Texte sind auf so klare Weise unverständlich, dass sie neue Deutungen und Bedeutungen geradezu erzwingen. Die Regeln von Interpunktion und Grammatik, sogar die Naturgesetze sind teilweise aufgehoben. Da zeigt sich etwas Rebellisches, vielleicht am schönsten in einem der ungewöhnlichen Liebesgedichte:

    Er ist fast verrückt geworden, wenn ich die Wörter rückwärts sprach. Einmal hat er es mir verboten, ich sollte die Wörter nie mehr rückwärts sprechen. Dann habe ich ihn verlassen. Es ging nicht mehr. Ich kann nicht mit einem Menschen frühstücken, der mir Wörter von rechts verbietet, überhaupt, wenn jemand etwas verbietet, ich kann da nicht schlafen, die Träume verlassen mich.“

    Wo scheinbar die formale Strenge rhythmisch gebrochener Zeilen fehlt, entsteht vieldeutige Verdichtung auf der Suche nach Transzendenz: etwas Kompaktes, manchmal Schwieriges, aber nie Schweres, das in der Phantasie des Lesers nachhaltig weiter arbeitet. Ein schmales Buch, komprimiert und voll gepackt wie eine ZIP-Datei: Diese Gedichte führen bis an die Grenzen der Sprache. Zitat:

    So verloren war ich/ dass ich immer nur Fragen stellte. Keine Antworten mehr/ die Fragen, unbedürftig. Niemand harrt da aus/ niemand/ wenn das Nicht nur nicht ein Nicht wäre, dann wäre es vielleicht eine Blume/ habe ich damals gedacht/ die uns erlöst und über das Ganze stellt. Das Reden: aufgehoben. Es gäbe gar nichts zu sagen.“

    Anfang 2011 brachte dann der Gedichtband „Quittenstunden“ die Gewissheit, dass diese Lyrikerin nicht jenseits der ausgetesteten sprachlichen Grenzen verschollen gehen würde. Sie schlug mit Langgedichten nur ein neues Kapitel auf. Nicht unbedingt formal, obwohl es auch formal eine Leistung ist, eine Spannung in Bildern und Rhythmen dramaturgisch über längere Strecken durchzuhalten. Doch vor allem stellt sich hier die Autorin eindeutiger und mutiger denn je den Verletzungen ihrer Biographie. Es sind keine autobiographischen Gedichte, aber doch Epitaphe, lyrische Dokumente einer Befreiung aus der Angstkirche des 20. Jahrhunderts. Hier zeigt sich erstmals mit einer schmerzhaften Intensität die Erfahrung von Kummer und Leid. Etwa in dem Gedicht ZEITTEPPICHE WENDE ICH:

    Mutters Gesicht ist aus mir entfernt
    : es war eine Operation am Nabel
    alles verblichen alles verheilt
    in all den Jahren liebte ich sie sehr
    vor allem ihre weißen Schläfen
    vor allem ihre böse Erinnerung
    vor allem ihre im Wegsehen geübten Augen
    ich tat‘s genau andersherum
    ich brachte sie fast um
    meine im Hinsehen geübten
    Augen so genau so genau
    verzieh sie mir nicht
    die Iris nie und nimmer und immer sagte sie
    zu bunt zu bunt bist du
    sie verzieh mir keinen Tag lang
    sie nahm sie mir krumm
    die Augen
    die Iris
    die Liebe
    die Erinnerung
    die Geburt vor allem
    meine Geburt war das Übel

    Trotz ihrer Wucht erschlagen uns diese Verse nicht mit ihrer eigenen Bedeutung, sondern federn sanft und elastisch ab in Selbstironie und Ironie, wie sprachliche Judo-Rollen. Diese Technik kann sie brauchen als Jobnomadin mit Laptop und Handy, gerade angekommen aus Berlin, über Zürich unterwegs in die USA. Wie in dem Gedicht „Vielfache Welt in Dir“:

    wo du bist ist immer etwas
    manchmal ist das Etwas
    auch nur ein bunt angemaltes Nichts
    das Denken ist deine Transsibirische Eisenbahn
    sie führt direkt nach New York
    dort denkst du
    war ich noch nie
    bevor die Welt für immer ganz anders wurde
    überall wolltest du überall sein
    jetzt nur mit diesem Rehblick aufhören

    Die Bücher von Marica Bodrožić sind der Atem einer kulturellen Symbiose, und der Leser darf, wenn er möchte, ein Teil davon werden. Die Dichterin kommt aus einem fremden Land mit geheimnisvollen Küsten und sonnigen Inseln. Sie ist eingewandert in die deutsche Sprache, hat sie sich anverwandelt und gibt sie uns verzaubert zurück. Das ist eine große Bereicherung. Es sind auch sensible, klare Analysen der eigenen Herkunft – in Versen, die zittern wie Gras im Wind, biegsam, zart und doch von einer unverwüstlichen Schönheit.





    Kunststück: Frieder Burda wird 75 und zieht Bilanz

    Der Kunstsammler Frieder Burda wurde im Mai 75 Jahre alt und zeigte in seinem Baden-Badener Museum mit der Ausstellung "Lebenslinien" eine Bilanz seines eindrucksvollen Werkes.

    Von einem Bild des Italieners Lucio Fontana (Rot mit Schnitt durch die Leinwand), das ganz am Anfang seiner Sammlertätigkeit stammt, bis zu den neuesten Arbeiten eines Neo Rauch, reicht das Spektrum. Und wenn er einen "roten Faden" darin benennen soll, spricht der von der Liebe zu Farben und den Expressionisten, die ihn von Kindheit an begleitet haben.

    Das Expressive kann konkret und abstrakt daherkommen, figürlich oder geometrisch, naturalistisch oder surrealistisch: Bei Burda gibt es interessante Gemeinsamkeiten zu beobachten zwischen ganz unterschiedlichen Künstlern wie Pablo Picasso oder Paul Klee. Nur wenig Schwarzweiß. Fast immer dominieren kräftige, sinnliche Farben in den Werken, die er kauft.

    Der Sohn der Verlegerin, der keine Zeitschriften machen wollte und ganz eigene Wege ging, hat mit dem Museum Frieder Burda in Baden-Baden sein Erbe in einer Weise angelegt, die moderne Kunst der Öffentlichkeit zugänglich macht.

    Kuratorin ist seit einiger Zeit (und auch bei dieser Ausstellung) Burdas Tochter Patricia Kamp. Sie hat Kunstgeschichte studiert und macht das ganz professionell. Aber sie versieht ihne Arbeit an den Schätzen ihres Vaters auf natürliche Weise mit dem Charme der Tochter, die genau weiß, was dem Sammler wichtig ist.

    Iht Fachwissen hilft beim Einordnen von Rang und historischem Kontext der ausgestellten Bilder, aber die knappe Beschriftung lässt Raum für eigene Gedanken und wirkt nicht aufdringlich. Wer mehr wissen möchte, als da an den Wänden hängt, kann zu dem opulenten Katalog greifen, der zur Ausstellung erschienen ist.

    Kunst soll auch nach Ansicht des Mäzens und seiner Tochter für sich sprechen, unmittelbar und nicht "verkopft" wirken. Das Museum Frieder Burda dient diesem Zweck auf unaufdringliche, aber sehr effiziente Weise. Die Eintrittspreise sind moderat, und die Architektur des Hauses mit großen Skulpturen im Umfeld des Kurparks an der Lichtentaler Allee reizt zum Schauen und Verweilen. Zusammen mit der benachbarten Staatlichen Kunsthalle und deren Cafetería bildet die Anlage eine Kulturmeile von höchstem Anspruch, an der nicht zufällig auch das Theater liegt und Konzerte in Brenners Parkhotel an manchem lauen Sommerabend über die Oos klingen, wenn alle Fenster geöffnet sind.

    Sogar die jugendlichen Surfbrettfahrer und Flaneure im Park verweilen gern, selbst wenn sie nicht die Ausstelungen im Inneren besuchen. So niedrig ist die Schwelle zur Kunst in Baden-Baden.

    Sonntag, 19. Juni 2011

    Highlights: Die Brandenburgischen Konzerte im Ludwigsburger Schloss



    Die "Six Concerts avec plusieurs instruments" von Johann Sebastian Bach, die der Komponist 1721 dem Markgrafen von Brandenburg widmete, sind schon eine besondere Sammlung von Konzerten. Wenn sie in einem Barockschloss gespielt werden, trifft das erst recht zu. Und wenn alle sechs an einem Abend zu hören sind, ist das eine absolute Seltenheit. Vielleicht lag es an der Nähe der Internationalen Bachakademie in Stuttgart, jedenfalls war der Ordenssaal des Ludwigsburger Residenzschlosses am 18. Juni rappelvoll. Und das Publikum hielt die Aufmerksamkeit ebenso volle drei Stunden durch wie erlesenen Solisten des umwerfenden Festspielorchesters ihr Niveau.
    Es war ein Fest für die Ohren. Ohne Dirigenten, aber unter der Leitung des Barockgeigers Rüdiger Lotter spielten die Musiker einfach den Regensturm draußen nieder: eine unglaubliche Olga Watts am Cembalo erinnerte daran, dass der Virtuose Bach diesen Teil der Partitur eigentlich für sich selbst geschrieben hat. Laura Vukobratovic und Hanns-Peter Westermann spielten einen Dialog von Trompete und Oboe, wie ich ihn souveräner und zugleich intimer noch nie gehört habe. Stefan Temmingh und Simone Nill an den Blockflöten boten die hohe Schule dieses Instruments, und Michael Schmidt-Casdorff tat es ihnen an der Querflöte gleich.

    Es wäre aber nicht fair, die Geigen, Bratschen, die sensiblen, vielseitigen Celli und den unglaublich vollen Bass an den Rand zu drängen. Sie waren in wechselnden Besetzungen jederzeit ebenso präsent wie die Solisten. Wie überhaupt das Ganze ein Stelldichein der Solisten war: wie in einer Jam-Session gaben sie die Staffette der Soli untereinander weiter, in Rhythmus und Ausdruck einer Jazz-Formation ähnlich. Der "Beat" kam hauptsächlich durch die rhythmisch eingesetzten Bässe zum Tragen; aber schon die Partitur ist so "fetzig", dass ich nicht übel Lust hätte, sie mal mit einem guten Schlagzeug zu unterlegen. Das stand Bach noch nicht zur Verfügung, aber er hatte es im Blut, das war hier besonders gut zu hören.

    Freitag, 10. Juni 2011

    Meine Wien-Reise III: Paläste für Adel und Bürger

    Wiens Ringstraße, die im 19. Jahrhundert als Prachstraße auf den geschleiften und nicht mehr sinnvollen Festungsanlagen aus der Zeit der Türkenkriege gebaut wurde, war auch unser zeitweiliges Basislager: angemessen und lehrreich. Das Dach überm Kopf: Das Radisson Blu Palais Hotel, enstanden aus dem 1872 erbauten Palais Henckel von Donnersmarck (ja, da kommt der Regisseur und Oscar-Preisträger also her!) und dem Palais Leitenberger.
















    Die klassizistischen Paläste sind natürlich heute wie damals für normale Menschen zu teuer im Unterhalt. Sie beherbergen Versicherungen und Behörden, Nobelgeschäfte und Restaurants, Handelsniederlassungen und Fluggesellschaften, Kanzleien und reiche Leute - und eben zahlreiche bessere Hotels. Derzeit wohl  die Top-Adresse dieser Nobelherbergen unter Denkmalschutz ist das Hotel Imperial. Aber auch das Shangri La bezieht hier gerade einen Block.

    Von hier aus kann man den ganzen 1. Bezirk (Innenstadt im engeren Sinn des Wortes) zu Fuß erkunden. Allerdings braucht man dazu gesundes Schuhwerk und eine leidliche Kondition. Wenn nicht vorhanden: Da fährt auch die Straßenbahn. Mit dem Auto möchte ich hier aber nicht unterwegs sein, weil es Wochen oder Monate dauern würde, bis man die ganzen Einbahnstraßen im Griff hat.

    Innen dürften die meisten dieser Innenstadt-Palais so aussehen wie unser Hotel. Mit Ahnengalerie im Treppenhaus, die dem Gast wenig sagt, aber dem kunsthistorisch interessierten Publikum erhalten bleibt.
    Typisch auch der Stilmix aus Klassizismus, Jugendstil, Neo-Renaissance und anderen, oft namenlosen Spielarten einer Ästhetik, die dem Genuss verpflichtet ist - optisch und auch sonst.

    Schon die Lobby (die heute vermutlich wirklich ein Lobyistentreff ist) vermittelt einen Eindruck von der großzügigen, aber nicht ungemütlichen Bauweise. Kein schlechter Treffpunkt - und fürs Personal am Empfang leicht im Auge zu behalten.














    Hier bekommt man Zeitungen, Getränke und Snacks, bei Bedarf ein Taxi oder Mietwagen, Auskünfte und - so man Zeit hat - immer etwas zu sehen. Wenn nicht gerade ein ganzer Kongress ein- oder auscheckt (im 1. und 2. OG gibt es dazu die passenden Tagungsräume), hält sich die Unruhe des Kommens und Gehens in Grenzen.

    Besonders phantasievoll sind oft die Innenhöfe der Palais gestaltet - hier unser Donnersmarck-Hotel. In Wien bläst viel Wind, der würde sich auch in den Innenhöfen verfangen und ihre Nutzung erschweren. So hat man die meisten verglast - in einer Zeit, als Glas- und Metallbau noch auf Gusseisen basierten und etwas Neues waren.

    So bleibt das Tageslicht erhalten (so vorhanden), und die Architektur spielt mit Symmetrie und einem reizvollen Wechsel von Außen und Innen. Diese Bauweise spoart aber auch Energie in einem Ambiente, das sonst eher durch Verschwendung gekennzeichnet bleibt.
    Alma Mahler sollte unbedingt so ein Palais und bekam es, die nymphomanische, herrische und kunstbesessene Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler. Hier konnte sie ihre Wiener Seilschaften als Mäzenin pflegen und saß wie die Spinne im Netz ihrer Beziehungen, Intrigen und Liebschaften, derweil der Gemahl auf Konzertreisen war oder die Stadt, den Hof und die ganze Mischpoche der feinen Gesellschaft zum Kotzen fand.




    Diesen Blick über die Dächer von Wien (in der Mitte die Kuppel der Karlskirche) hatten wir aus unserem Zimmer im Hotel. Das erzeugte Behéme-Gefühle, die auch architektonisch bestätigt wurden: Paläste - oder besser einen einzigen riesigen Palast hat Wien auch für Bürger gebaut. Über einen Kilometer lang ist der Karl-Marx-Hof des expressionistischen Architekten Karl Ehn, erbaut ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise von 1937-1030 im Auftrag der sozialdemokratischen Stadtregierung. Es war ein Projekt gegen die Wohnungsnot mit Modellcharakter bis heute.



    Das monumentale Symbol für das "rote Wien" wurde wie andere, meist kleinere Anlagen finanziert durch Luxussteuern auf Champagner, Dienstmädchen, Autos und andere Accessoirs des gehobenen Lebensstils auf der Ringstraßenseite der Wiener Gesellschaft. Die Wohnungen waren im Schnitt 40 Quadreatmeter klein, die Mieten erschwinglich. Die "Arbeiterschließfächer" der Plattenbauten im real existierenden Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg waren im Vergleich dazu Elendsquartiere. Denn hier im Karl-Marx-Hof gab es von Anfang an fließend kaltes und warmes Wasser, günstige Strom- und Gastarife sowie eine vorbildliche Infrastruktur: Gemeinschaftseinrichtungen wie Bäder, Waschküchen, Gaststätten (zum Teil bis heute in Betrieb), Läden, Bibliotheken, Kindergärten, Freibäder und "Kunst am Bau". Manche der heutigen Bewohner sind schon als Kleinkinder dort in der Heiligenstädter Straße eingezogen, und die meisten wollen nie wieder weg.

    Auch ruhige Innenhöfe mit sonnigen Balkons für die Hälfte der 1252 Wohnungen zeigen, wie erstrebenswert Großstadtleben schon damals sein konnte. 

    Dass hier eine Hochburg der Arbeiterbewegung entstand, die bis heute polarisiert, wundert mich nicht. Die Straßenbahn vor der Haustür, die Arbeit nicht weit: Davon z.B. träumen Pendler heute zu Millionen in ganz Europa. Als wir dort waren, entstand gerade eine riesige Tiefgarage für die automobilen Bewohner des Karl-Marx-Hofes, und der Park vor der frontalen Hauptfassade an der Heiligenstädter Straße wurde deshalb zum Großteil neu angelegt. Kein Wunder, dass auch diese Anlage längst unter Denkmalschutz steht.

    Kunst am Bau ist keine Erfindung der Zeit nach 1945.

    Ich finde, man sollte alle frisch gewählten Kommunmalpolitiker Europas hierher zu einer Besichtigung einladen. Dann können sie studieren, was möglich ist im sozialen Wohnungsbau - und was immer noch unmöglich ist: soziales Denken bei asozialen Leuten zu erzeugen.

    Solche Leute gibt es auch in Wien natürlich auch im Jahr 2011 noch.Sie zeigen sich nicht unbedingt bei Tageslicht, aber ihr Wirken im Dunkeln hinterlässt offenbar häufiger Spuren als das Geld für deren Entfernung reicht.

     




    Diese Gedenktafel an der Rückseite des Blocks hängt zu hoch für Vandalen: Sie erinnert an den Arbeiteraufstand gegen den bewaffneten Austrofaschismus im Jahr 1934, der hier ein Zentrum hatte und der von der Regierung mit Kanonen zusammengeschossen wurde.


    Was dann 1938 nach der Machtübernahme der Nazis geschah, hat ebenfalls eine hoch gehängte Gedenktafel an der Rückseite festgehalten:
    60 Familien wurden wegen "nicht-arischer Herkunft" aus dem Karl-Marx-Hof vertrieben

    Die Namen der Verjagten sind hier verewigt. Einge von ihnen landeten von hier aus direkt im KZ.

    Nach der Generalsanierung des Karl-Marx-Hofes in den Jahren ab 1990 wurden einige Wohnungen zusammengelegt. Die meisten blieben aber so klein, wie sie immer waren - und so zahlreich. Die ursprüngliche Idee gilt ja nach wie vor: Möglichst viele Menschen sollen in der Millionenstadt Wien eine lebenswerte Umgebung und eine menschenwürdige Wohnung finden.

     





    Meine Wien-Reise II: Denkmäler und kulturelle Identität



    Vor dem Wiener Parlament erinnert eine Statue der Pallas Athene an das römisch-griechische Kulturerbe Europas, vor allem aber an die Erfindung der Demokratie in Griechenland. Man kann nachdenklich werden, wenn man erlebt, wie die "Europäische Gemeinschaft" in diesen Tagen Griechenland mit neoliberalen Sanierungs- und Privatisierungsprogrammen für die Verschwendung vergangener Jahre zu bestrafen versucht und dabei gnadenlos kaputt spart.Was ist da noch demokratisch?

    Aufmerksam wurden wir auf solche Zusammenhänge durch meinen Freund, den Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Allgemein bekannt wurde Irenäus Eibl-Eibesfeldt nur als Naturwissenschaftler, der mit Hans Hass auf den Galapagosinseln spektakuläre Filme über die Paarungskämpfe der jetzt berühmten Meeresechsen drehtge. Doch er ist auch ein Provokateur, der von der „Biologie des menschlichen Verhaltens“ spricht und eigentlich „biologische Grundlagen“ meint.

    Ab 1983 ist die Schweizer Kunsthistorikerin, Germanistin und Hirnforscherin Christa Sütterlin Eibls engagierteste Mitstreiterin. Und seitdem werden ihm Kultur und Politik immer wichtiger, seine Thesen immer umstrittener. Er polemisiert gegen eine Gesellschaft des Misstrauens -  lange bevor die Deutsche Bahn Hunderttausende ihrer Mitarbeiter ausspioniert. Er attackiert die Ellbogengesellschaft und eine lediglich ökonomische Globalisierung, als diese noch "alternativlos" erscheinen. Statt eines kurzatmigen Wettlaufs ums schnelle Geld fordert Eibl (wie Hans Küng) im ökologischen und sozialen Bereich ein generationenübergreifendes Ethos des Überlebens. Als hätte er die Proteste vorhergesehen, die heute  junge Araber, Griechen, Spanier und Deutsche vereint in dem Vorwurf an eine kleine, reiche Minderheit, ihnen die Zukunft zu rauben und dabei die Demokratie zu beschädigen.


    Beide, Sütterlin und Eibl-Eibesfeldt, sind Grenzgänger zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. 2007 erscheint ihr Gemeinschaftswerk „Weltsprache Kunst. Zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“. Ausgiebig beschrieben sind dort die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen und Gefahren dessen, was wir „kulturelle Identität“ nennen. Die entwickelt sich laut Eibl über verschiedene Stufen der Integration: Familie, Clan, Stadt, Nation – und dann zum Beispiel Europa. Die Brutpflege ist für Eibl vor allem deshalb eine „Sternstunde der Evolution“, weil sie im Modell der erweiterten Familie den Beginn jeder Gruppen-Identität darstellt, auch einer kulturellen. In einem Interview sagte er mir:
    "Mit der Familie kam auch „Das Wir und die anderen“ in die Welt, die Verteidigung der kleinen Familie zunächst, und der erweiterten Familie der Gruppe, die über Sozialtechniken immer wieder auf einer anderen Ebene besetzt werden kann, affektiv, als „Wir“, die familia. „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“: eine Utopie nicht notwendigerweise, wenn man die basaleren respektiert!"


    Der Generalist Eibl sucht nach ganzheitlichen Beschreibungen menschlichen Verhaltens aus naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Sicht. Auch historische Wahrnehmung und kulturelle Identität, so Eibl, lassen sich in seinem Stufenmodell der erweiterten Familie oder Gruppen-Identität beschreiben. Als Beispiel dafür nennt er die Denkmäler Wiens. Sie feiern den Wiener Lokalpatriotismus, Österreich, die deutsche Kulturnation und das Heilige Römische Reich deutscher Nation - in gewisser Weise sogar Europa vor der EU. O-Ton Eibel-Eibsefeldt:


    "Rüdiger von Starhemberg hat ein Denkmal als der Verteidiger von Wien. Erzherzog Karl hat ein Denkmal: steht doch auf der einen Seite „Dem beharrlichen Kämpfer für Deutschlands Ehre“ und auf der anderen Seite „Dem siegreichen Führer der österreichischen Heere“. Das war nie für uns Deutsch-Österreicher eine Schwierigkeit, die deutsche Identität, sondern sie war selbstverständlich. Und sie drückt sich auch darin aus: Goethe, Schiller, Beethoven genau in gleich großartiger Position mit Schubert, Haydn, Mozart, Grillparzer usw.: Mischt sich durcheinander."

     
    Mozart-Denkmal auf dem Wiener Zentralfriedhof - und ganz in der Nähe auch ein Platz für Beethoven

    Denkmäler erzählen aber auch eine Geschichte des Krieges, die als kollektive Aggression ebenfalls zum Teil genetische und biologische Wurzeln hat, sagt Eibl. Bei den Yanomami im Amazonas-Regenwald hat er selbst erlebt, wie im Kampf körpereigene Drogen freigesetzt werden, und wie sich Menschen unter dem Einfluss dieser Endorphine verhalten:

    "Ich hab selbst erlebt, wie in kriegerischen Auseinandersetzungen, an denen ich teilnahm, zwei Mal, Pfeil-Getroffe zwar sich zurückziehen, und auch weg getragen werden, wenn sie schwer verwundet sind, wie der Schmerz aber erst viel später kommt. Auch der Blutrausch ist ja ein Phänomen, das es gibt. Zwei Dinge spielen dabei eine Rolle: Das erste ist die Angst, dass der mich schneller umbringt als ich ihn. Das zweite ist, dass sie gleichzeitig in diesem Endorphin-Rausch auch in den Gefühlen abgestumpft sind. Danach, das Erwachen daraus, einen Tag oder zwei Tage später: Selbst bei den Yanomami-Indianern, die sich ja wirklich erstaunlich rücksichtslos umbringen im Krieg, muss ja der erfahrene Krieger, der getötet hat, Sühnerituale absolvieren. Also: sich säubern, sich jeden Tag waschen. Er muss sich mit Brennnesseln abreiben, muss sich der Nahrung und vieler anderer Dinge, die gut sind, enthalten, bis er wieder gesäubert ist."


    Solche Sühnerituale, vermutet Eibl, sind notwendig, damit der Mensch verarbeiten kann, was er im Krieg getan hat: Wer beichtet und büßt, hat bessere Chancen, dass kein posttraumatisches Belastungssyndrom zurückbleibt. Doch selbst hoch entwickelte Sozialtechniken in Zivilisation und Kultur können missbraucht werden. Weil der Mensch manipulierbar bleibt, warnt Eibl besonders vor der Verherrlichung von Gewalt. Denn die schafft etwas, das länger hält als jeder Blutrausch.

    Jahrzehnte schon erforscht er die Abgründe der kollektiven Aggressivität. Sie ist ihm als Pimpf bei den Nazis ebenso begegnet wie bei Militärparaden zum 1. Mai in Moskau oder Ostberlin. Deshalb teilt er die Vorbehalte seines Landsmannes, des Schriftstellers Thomas Bernhard, gegen einen falschen nund gefährlichen Nationalismus auch in Österreich. Kriegerdenkmäler finden sich wahrscheinlich überall in der angeblich zivilisierten Welt, aber selten in solcher Dichte wie am Wiener "Heldenplatz" - so auch der Titel eines umstrittenen Theaterstücks von Thomas Bernhard. Auf diesem Platz steht neben Prinz Eugen, dem "Retter vor der Türkengefahr", auch Erzherzig Karl, hoch zu Ross eine Standarte im Freiheitskrieg gegen Napoleon schwingend.

    Eibl sieht die Rückfallgefahr angesichts kritikloser Nationalbegeisterung ewig-gestriger Gruppierungen wie den Anhängern von Jörg Haider:

    "Die Begeisterung: Die ist ein Phänomen, das diese Form der kollektiven Aggression von allen anderen Aggressionsformen unterscheidet. Denn wer eine Bank beraubt, ist nicht begeistert. Und der einem im Gewerbe das Haxel stellt, ist nicht begeistert. Begeistert ist der, den der Schauer der Ergriffenheit überläuft, beim Anblick des sakralen Zeichen einer Gemeinschaft, bei den Hymnen usw. Und der dann dieses Heldengesicht macht."

    Angesichts dieser "Heldenhaltung" läuft es dem alten Mann immer noch kalt den Rücken hinunter. Aber Eibl ist Österreicher. Dass dieser Röntgenblick in die Seele seiner Landsleute von innen kommt, finde ich ausgesprochen tröstlich. Auch die Araber müssen ihre bösen Geister selber vertreiben, damit es nicht heißt, solche Kritik sei imperialistisch oder "westlich".