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Sonntag, 12. September 2010

Wolfgang Hilbig, ein DDR-Autor schlechthin

Wolfgang Hilbig: Werke, Band II. Erzählungen und Kurzprosa. Mit einem Nachwort von Katja Lange-Müller. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 768 S., 26,95 EURO.

Beim S. Fischer Verlag ist der zweite Band der Werkausgabe des 2007 verstorbenen Wolfgang Hilbig erschienen: „Erzählungen und Kurzprosa“. Das Buch ist 767 Seiten dick und enthält 52 Texte, 13 davon bisher unveröffentlicht. Nicht aufgenommen wurden die drei langen Erzählungen „Die Weiber“, „Alte Abdeckerei“ und „Die Kunde von den Bäumen“, die für den nächsten Band vorgesehen sind. Und außerdem fehlen Texte, die nach Ansicht der Herausgeber in die Kategorie „Essays“ gehören. Insgesamt sieben Bände sollen es werden, aber zu Recht gelten Hilbigs Erzählungen als sein Hauptwerk: über 30 Jahre hat er kontinuierlich daran gearbeitet.

Denn ein Arbeiter war Wolfgang Hilbig: erst Industriearbeiter und dann Schreibarbeiter in der DDR. Der Unterschied war für ihn riesig und doch auch wieder geringfügig. Er tat sich schwer als so genannter „Arbeiterschriftsteller“ und beschrieb eher, was faul war im angeblichen Paradies der Werktätigen. Aber auch den Kritikern im Westen hat er im Nachlass noch ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Wer sein Buch von vorne bis hinten liest, stößt erst ganz am Ende darauf. In der Erzählung „Die Nacht am Ende der Straße“, der einzigen aus dem Nachlass, die mit dem Jahr 2005 ein jüngeres Entstehungsdatum trägt, heißt es:

Meist waren seine Bücher in den Feuilletons gut besprochen worden, ein paar davon sogar ausnehmend gut; so war es, und es gab nur wenige Ausnahmen von dieser Regel, aber er meinte, er kenne seine Bücher besser als die Feuilletonisten, die allesamt so gut wie dasselbe über ihn schrieben … die bei jedem neuen Buch immer wieder auf seine blutigen Anfänge zurückkamen, so als schrieben die Feuilletonisten nur von den Feuilletonisten ab, die vor ihnen an der Reihe gewesen waren, so als habe er nie irgendwann eine Entwicklung durchgemacht … und wenn er darüber nachdachte, dann musste er ihnen wohl oder übel recht geben. ... Er war an alldem selber schuld.

Wie sperrig dieser Mensch war, wie grüblerisch: fast immer unentschieden schwankend zwischen Vorwürfen und Selbstvorwürfen. Stilistisch bewegte er sich zwischen genialen Einfällen und gewollt quälend ungelenken Sätzen, immer wieder abbrechend und neu ansetzend. Sein letzter Text, „Die Nacht am Ende der Straße“, setzt sich mit einer Schreibblockade auseinander, unter der er seit den Anschlägen vom 11. September 2001 litt.

In der für ihn typischen, unauflöslichen Mischung aus Fiktion, Reflexion und Autobiographie fragt er nach dem Unterschied zwischen Schreiben-Müssen, Schreiben-Wollen und Schreiben-Können. Nicht ohne Galgenhumor stellt er fest, dass er seit Jahren nur noch mit seinem Zigarettenkonsum über dem Durchschnitt liege. Und einem interessierten Leser gesteht er nach einer Flasche Wein:

Ich kann dir verraten, dass ich nur stocknüchtern schreiben kann. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat, wann oder wie; ich weiß noch nicht mal, ob ich saufe, weil ich nicht schreibe, oder umgekehrt, ob ich nicht schreibe, weil ich angefangen habe zu saufen … das ist, so nennt man das wohl, der ganze Teufelskreis.

Wolfgang Hilbig war der Sohn eines Bergarbeiters, der nicht aus dem Krieg zurückkam. Der Junge wuchs als Schlüsselkind auf und trieb sich viel in den Braunkohle-Tagebaugruben der Umgebung herum: ein schwieriges, einsames Kind, das schüchtern war und doch „ein überwältigendes Verlangen nach Zärtlichkeit“ spürte. Die Landschaften dieser Kindheit durchziehen Hilbigs Prosa nicht nur als Kulisse; sie sind integraler Bestandteil eines Porträts der DDR, eigentlich eine zweite Hauptfigur neben dem Erzähler. Noch als er längst in Edenkoben in der Pfalz lebte, schrieb Hilbig:

Obwohl ich schon seit einigen Jahren hier lebte, schrieb ich immer weiter über die horizontweit sich erstreckenden Mondlandschaften im Süden von Leipzig, immer weiter über die kleine Industriestadt, in der ich geboren worden war, die umgeben war von Tagebauen, aus denen einst, bis in unergründliche Tiefen hinab, die Braunkohle gefördert worden war.

Hilbig arbeitete als Dreher und Hüttenarbeiter in der Leipziger Metallindustrie. Ab 1964 begann er Gedichte und Erzählungen zu schreiben, von denen aber die meisten in der DDR nicht gedruckt werden durften. Eigentlich entsprachen sie dem Ideal des sozialistischen Realismus, zeigten aber auch eine tiefe Verstörung angesichts der Zerstörungen, die Menschen und Natur durch die sozialistische Arbeitswelt erlitten. Erst wenn man diese Erzählungen im Zusammenhang liest, erkennt man darin auch den Kampf gegen den eigenen Schatten, die Suche nach der eigenen Persönlichkeit. Mögliche Einflüsse ergeben sich aus Hinweisen darauf, was der Autor so las:

Bücher, die ich vor zwanzig Jahren verschlungen hatte: Stevenson, Poe, ein paar angloamerikanische Kriminalromane, und Byrons Vampir-Fragment – ohne die Fortsetzung von Polodori –, das ihn wegen der lichtlosen Stimmung, die darin zum Ausdruck kommt, immer wieder staunen ließ. Diese wenigen Seiten hatten ihm, vor vielen Jahren schon, öfters zum Vorbild für eigene Produkte gedient, allerdings hatte diese Vorlage mehr dahin gewirkt, dass er in seinen Entwürfen ebenso fragmentarisch blieb.

Hilbigs Prosa ist bar jeder Erotik oder Lebensfreude, depressiv und grau, wie es sein Leben und die historischen Umstände seines Schreibens waren. Sein beharrliches Insistieren auf dieser Sicht der Dinge machte die Kulturfunktionäre der DDR wütend und viele Leser im Westen ratlos. Nicht zufällig sind Hilbigs Figuren – mal als „Ich“, mal als „Er“ bezeichnet – immer Außenseiter auf der Suche nach Orientierung und Identität. Sie kämpfen gegen die Windmühlenflügel eines übermächtigen Systems oder einer gespaltenen Wahrnehmung. Tief beeindruckt war Hilbig von Kafkas Erzählung „Kinder auf der Landstraße“:

Ich sah plötzlich mich; das erste Mal in meinem Leben fand ich mich beschrieben. Und ich erkannte auf der Stelle, was hier geschah: die Literatur antwortete dem Leben… Dies war meine letzte Erfahrung mit der Sprache, und ich gab es auf, wie das Leben zu schreiben, da ich doch Literatur wollte.

Oft spiegeln sich literarische Kunstfiguren und Doppelgänger so in der Biographie des Autors Wolfgang Hilbig, dass man nicht zwischen Original und Spiegelbild unterscheiden kann. Das macht die Lektüre nicht einfach, wie auch manche Schreibweisen des Autors, oder das Schwanken zwischen Erinnerung, Alptraum, Fiktion und Reflexion. Wer aber durchhält, den belohnen unglaublich dichte Eindrücke und Bilder, die bleiben.

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