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Freitag, 2. April 2010

Die Seele Lateinamerikas: Eduardo Galeano

In diesem bitter kalten Winter habe ich wieder Galeano gelesen: "Die offenen Adern Lateinamerikas" waren lange vergriffen und sind nun erneut zugänglich beim Peter Hammer Verlag. Es ist ein Buch über die Geschichte Lateinamerikas, aber vor allem über seine verletzte Seele. Die Ausbeutung - einst durch die spanischen Eroberer, im 18. und 19. Jahrhundert durch die Briten, die den internationalen Sklavenhandel für die Zucker- und Baumwollplantagen Kubas und Brasiliens oder die Kautschukproduktion im Amazionasgebiet beherrschten, und seit dem 20. Jahrhundert durch Großkonzerne überwiegend der USA - diese Ausbeutung ist der blutrote Faden der Geschichte Lateinamerikas. Die offenen Adern sind nicht nur die Silberadern von Potosí, die Goldminen in Minas Gerais oder die Kumpferminenn von Cerro del Pasco in Peru, es sind die Wunden eines Kontinents und seiner Bewohner durch über 400 Jahre Plünderung, Mord, Unterdrückung und Katastrophen aller Art. Das Erdbeben, das im Januar 2010 Haiti verwüstete und über 230 000 Menschenleben kostete, ist nur das letzte Beispiel dafür: eine Naturkatastrophe, die schlimmer wird durch Korruption und Gewalt. Es ist eine Katastrophe, die zur internationalen Solidarität aufruft und durch wohl bloß wieder Einmischung und Entmündigung produzieren wird.

Hier schließt sich der Kreis, denn auf Haiti landete Kolumbus als Entdecker Amerikas. Von den Ureinwohnern lebt kein einziger mehr. Die Nachkommen der schwarzen Sklaven aber, die im 20. Jahrhundert in die Selbständigkeit "entlassen" wurden, bewohnen ein reiches Land, das heute eines der ärmsten auf dem Globus ist. Die Bäume sind für die internationale Schiffahrt und Möbelindustrie gefällt, die Preise für Zucker, Kaffee und Kakao am Arsch wegen Lidl, Aldi & Co., Investitionen in eine Tourismusindustrie wie in der benachbarten Dominikanischen Republik (auf den gleichen Insel!) wegen irrrsinnigr "Ablösesummen" an Plantagenbesitzer bei der Unabhängigkeit illusorisch,  Bildung ein Fremdwort und Selbständigkeit unter diesen Bedingungen ein purer Zynismus.
Natürlich ist Eduardo Galeano ein Linker; aber er wurde dazu, wie auch ich dazu wurde, durch Mitgefühl mit den Opfern menschlicher Ungerechtigkeit. Sein Buch ist mehr als eine Anklage, die schon der spanische Mönch Bartolomé de las Casas Anfang des 16. Jahrhunderts so scharf wie folgenlos formilierte. Es ist eine unentbehrliche Sammlung des Wissens, ohne das keine noch so edle Haltung diskussionsfest sein kann. Es ist eine enorm fleißig recherchierte und mit Herzblut geschriebene, systematische Geschichte Lateinamerikas - ein unentbehrliches Nachschlagewerk und zugleich eine kostbare Sammlung von Quellen und Aphorismen, die das Leiden Lateinamerikas auf den Punkt bringen. Aufbewahren für alle Zeit!

In "Zeit die spricht" erzählt Galano, der aus Uruguay stammt und wie viele Latinos ein begeisterter Fußballfan ist, Geschichten, die er gehört oder erlebt hat - 333 kurze Prosastücke, in deren Mittelpunkt indianische Mythen ebenso oft stehen wie tagesaktuelle Beobachtungen. Galeano, in Montevideo und Buenos Aires einer der meist gelesenen Zeitungskommentatoren, führt hier die hohe Schule der Glosse vor. Das Buch verknüpft sie, die anfangs nur einzelne, lose Fäden waren, zu einem großen gemeinsamen Muster der Liebe zu den Menschen und zur Natur, aber auch des Hasses gegen jene, die beide bedrohen - und des Geschichtsbewusstseins.Wie alle Bücher Galeanos ist es erschienen im Verlag Peter Hammer, Wuppertal.

Wie es (oder besser Eduardo Galeano) dies tut, zeige ich am besten an einem Beispiel, bei dem es nicht zufällig um die kostbarste Ressource des Planten geht:


Wasser, das internationale Großkonzerne inzwischen am liebsten total privatisieren und den Menschen noch in Timbuktu teuer verkaufen würden, hat schon über Krieg und Frieden bestimmt. Inzwischen sind ganze Bücher darüber erschienen, aber Galeano sagt alles Wesentliche zum Thema in wenigen kurzen Geschichten wie hier. Sie ist nicht erfunden. Aber sie wurde geschrieben mit der Sorgfalt des Wissenschaftlers und der Sprache eines Poeten: typisch Galeano.
Die Liste teuerer Tafelwasser, die schon auf dem "Markt" sind, kann jeder im Geist aufsagen. Dabei ist jede solche Privatisierung einst öffentlichen Gutes ein Raub - das wird nur allzu leicht vergessen.


Fast 450 Seiten dick ist die Textsammlung "Fast eine Weltgeschichte", in der Galeano 2008 seine Kunst der Miniatur noch einmal auf neue Höhen schraubte: Noch kürzer die Texte, noch systematischer als Weltgeschichte im Kleinen angelegt. Das Buch ist eine Fundgrube für skurrile Nebenschauplätze der großen Geschichte, aber auch für Volksweisheiten und ebenso witzige wie kritische Kommentare zu allen Religionen und Denksystemen der Welt. Ganz ähnlich wie Helene Hegemann mit ihrem "Axolotl Roadkill" ging es ihm dabei, aber er ging mit dem geistigen Enteignungs- oder Übereignungsprozess, zu dem er gezwungen war, besser um: "Es gibt hier keine bibliographischen Quellen", schreibt er schon im Vorwort. Aber auch:  "Mir blieb nichts anderes übrig, als sie auszulassen. Früh genug wurde mir klar, dass sie mehr Raum einnehmen würden als die über vierhundert Seiten dieses Buches". Doch wo immer es geht (und das ist erstaunlich oft der Fall), baut er die Nennung der Quelle in den Text unmittelbar ein. SO MACHT MAN DAS, liebes Fräulein Hegemann!

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