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Sonntag, 31. August 2008

Arbeitsurlaub im Sommer

Der Urlaub im August war überschattet von der Sorge um meine Frau Grit, die einen schweren Hörsturz hatte. Die Folgen sind sehr unangenehm, und die geplante Reise ins Allgäu zum Wandern musste ausfallen.
Ende August ging es ihr dann etwas besser. Und da ich sowieso mit dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt zu einem Interview verabredet war, fuhr ich dann mit einem kleinen Zeitpolster wenigstens für ein paar Tage an den Starnberger See, wo Eibl-Eibesfeldt wohnt. Das erste Foto zeigt den See an meinem Hotel Schloss Berg, wie ich ihn am Dienstag Nachmittag antraf. Leider hatte mich kurz vor der Abfahrt ein Anruf vom RBB Kulturradio in Berlin erreicht mit der Bitte um ein Porträt von Karl Otto Conrady, weil der Sender ab 1. September den Hör-Conrady ausstrahlt. Neue Kundschaft soll man nie ablehnen, also verbrachte ich den Nachmittag am PC mit O-Töne Schneiden und Text-Schreiben.

So sah der See dann aus, als ich fertig war und zum Essen auf die Hotelterrasse ging. Es gab zum Durstlöschen ein herrliches Bayerisches Bier und zum Essen Seibling und Weißwein, da hab ich mir richtig was gegönnt. Der heimische Fisch ist den Bodensee-Felchen nah verwandt und schmeckt ausgezeichnet.
Dass es noch einmal so schön werden würde in diesem Sommer, hatten die Wetterfrösche zwar seit Tagen angekündigt; aber wenn es dann passiert, ist es noch schöner. Wir sind ja inzwischen einen deutschen Sommer-Monsun gewöhnt. Ich schlief schlecht wie üblich in fremden Betten.

Am nächsten Morgen sah es so aus. Da hatte ich also Zeit, denn Orientierung war unmöglich. Nach dem Frühstück bekam daher die Redaktion in Berlin eine E-Mail mit meinem Text.
Dann traf ich den Wissenschaftler, seine Frau und seine Mitarbeiterin Christa Sütterlin - er wohnt in Starnberg und sie trafen wir im Institut für Humanetologie in Andechs - leider nur noch eine kleine Forschungsstelle im botanischen Institut der Max-Planck-Gesellschaft. Die Gespräche waren lang und gut, zogen sich aber mit einem Abendessen beim Italiener am Ammersee bis nach 22 Uhr hin. Trotz der Mühen von Prof. Eibl war kein Zimmer in einem der Gasthöfe der Region für mich frei: Ferienzeit in der Touristenregion. Ich wollte da raus und dann was für die Nacht finden, weil ich das geahnt hatte.
Aber Eibls Gastfreundschaft ließ mich nicht ohne ziemlich ausgiebige und dennoch vergebliche Versuche ziehen. Dabei erlebte ich, wie bekannt und beliebt der 80jährige Professor bei den Leuten in der Gegend ist.
Vor der Kirche in Andechs saßen ein paar Männer im Biergarten des (leider4 ebenfalls belegten) Gasthofs, einheimische bärtige Machos um die 40, also viel jünger als wir. Im Vorbeigehen wurde Eibl plötzlich angesprochen: "Ja, kennst uns denn nimmer, Professor?" fragte einer freundlich, aber unüberhörbar. Und er blieb stehen und war sofort in ein Gespräch verwickelt: "Ja freilich, da schau her, der Karl! Was macht die Frau?" kam es von Eibl zurück. Der Mann war einmal vor langer Zeit als Hilfskraft bei einer Expedition in die Wälder Papua-Neuguineas dabei gewesen.

Ich fuhr von Eibels Reich in Richtung Irschenberg auf die Autobahn nach Salzburg, wo ich noch ein paar Besuche machen wollte. Und so sah es am Morgen beim Aufwachen im Motel aus, wo ich noch ein Bett bekam. 85 Euro sind ziemlich viel Geld für so eine Übernachtung - auch noch ohne Frühstück. Aber wenn hinterm Haus so ein Blick wartet, kann man die Autobahn vor dem Haus und die Geldgier der Besitzer leichter verkraften.


In Salzburg war ich zu einem Gespräch bei dem Antiquar und Schriftsteller Max Blaeulich in der Steingasse un d ging auf den Spuren meiner Jugend spazieren. Außerdem hatte ich endlich einmal Zeit, die Einladung von Elisabeth Bruckner anzunehmen, sie doch wieder einmal zu besuchen.

Diese mütterliche Freundin ist die Mutter meines besten Schulfreundes Georg, der wie sein Bruder und seine Schwester in Wien lebt. Die alte Dame ist 87 und wäre daher ziemlich viel allein, wenn sie sich nicht rührend um ihre 91 Jahre alte Schwester Edith kümmern würde. Außerdem vermietet sie während der Salzburger Festspiele und Hochschulwochen Zimmer an Musikstudenten und Nachwuchskünstler aller Sparten. Da hat sie dann wieder Leben in der Bude. Elisabeth Bruckner fährt noch täglich Auto und lebt zwei Häuser neben dem inzwischen leicht vergammelten Haus meiner Salzburger Kindheit. Ihre zwei Buben waren im gleichen Alter wie mein Bruder Thomas und ich. Wir spielten zusammen, machten die gleichen Messdiener- und Pfadfinergruppen unsicher und gingen auf die gleiche Schule. Wie oft ich bei Bruckners war, kann ich schon gar nicht mehr sagen. Im Rückblick kommt es mir so vor, als sei ich mehr dort als daheim gewesen.
Nach dem Aufbruch am Dienstag war jetzt nach einem Abend des Erzählens schon wieder Freitag und ich musste zurück: Die Ferien-Rückreisewelle drohte, und ich sollte an diesem Nachmittag meinen Beitrag für das RBB Kulturradio noch fertig produzieren. Die Kollegen wollen am Montag zu einem Zeitpunkt schon senden, an dem ich noch im Auto nach Baden-Baden sitze. Zwei Tage Sonne noch, ein bisschen Wochenende, Einkäufe, Ausschlafen und ein paar Freunde zur Geburtstags-Nachfeier: Das war 2008 mein Arbeitsurlaub im Sommer.

Sonntag, 3. August 2008

125 Jahre Kafka und ein Hörbuchtipp

Am 3. Juli 1883, also vor 125 Jahren, wurde in Prag Franz Kafka geboren – ein moderner Klassiker der Weltliteratur. Wer hat nicht schon als Schüler seine Erzählung „Die Verwandlung“ gelesen, wo der Vertreter Gregor Samsa eines Morgens als riesiges Insekt aufwacht? Die Deutsche Grammophon bringt jetzt, aus aktuellem Anlass, auch Kafkas Roman „Das Schloss“ als Hörbuch heraus. Ulrich Matthes, der auch beim Hör-Conrady mitwirkte, hat die Kassette mit 10 CDs gelesen.

Obwohl Kafkas letzter Roman ein Fragment blieb, ist er so etwas wie die Summe seines Werkes. Die Geschichte: ein Alptraum mit lauter Zutaten aus der realen Welt: Der Landvermesser K. wird in ein Dorf bestellt, das einem Schloss gehört, aber dort will niemand etwas von ihm wissen. Und je mehr er sich bemüht, Klarheit zu schaffen, desto unerreichbarer wird das Ziel. Schon der erste Satz steckt voller Symbole für Undurchschaubarkeit und Kälte.

Die düstere Ausweglosigkeit und Vergeblichkeit hat Methode. Ohne Erlaubnis des Schlosses darf man im Dorf nicht einmal übernachten. Eine monströse und sinnlose Bürokratie schüchtert die Menschen ein. Das versucht auch gleich am ersten Abend ein junger Schnösel, der sich als Sohn des Kastellans vorstellt. K. wimmelt ihn selbstbewusst ab, aber am nächsten Morgen reagiert der Wirt seltsam. Auch diese Leute haben hier große Macht. Scheinbar wird eine Nichtigkeit zur Ursache dafür, dass K. im Schloss nie empfangen wird und im Dorf ein Außenseiter bleibt.

Kafka beschreibt einen Menschen ohne Identität, der in einer kalten und unverständlichen Welt gefangen ist. Es wird sein einziger Lebensinhalt, die Anerkennung seiner Mitmenschen zu gewinnen. So haben auch die erotischen Begegnungen etwas Verzweifeltes. K. verliert sein Selbstbewusstsein immer mehr und verzweifelt an sich selbst. Denn er bleibt völlig auf die Anerkennung seines Auftrags als Landvermesser fixiert. Als er endlich einen wohlwollenden Beamten trifft, scheitert das Gespräch wieder: K. ist sterbensmüde, und der Beamte faselt von seinem Büroschlaf: ein wunderbares Beispiel für Kafkas skurrilen, schwarzen Humor. Er arbeitete bei einer großen Versicherung in einem palastartigen Gebäude und lebte als Kind in Dörfern mit Schloss. Als Bürokratiesatire ist „Das Schloss“ zeitlos aktuell.

Niemand hat das Kanzleideutsch in seiner ganzen Menschenverachtung treffender bloßgestellt als Kafka. Und die Stimme von Ulrich Matthes macht all die Stimmungen und Seelenlagen in diesem Roman lebendig: männlich oder weiblich, zärtlich oder aggressiv, lakonisch, apathisch, melancholisch, spöttisch, aufbrausend oder unterwürfig. „Das Schloss“ von Franz Kafka, gelesen von Ulrich Matthes. Die Kassette der Deutschen Grammophon mit 10 CDs kostet 29,99 EURO. Außerdem sind bei der deutschen Grammophon Hörbücher von Kafkas Erzählungen sowie die Romane „Der Verschollene“ und „Der Prozess“ erschienen.

Abwege der Phantasie

Der Erzähler Markus Orths ist 39 Jahre alt, ein gelernter Lehrer aus Viersen am Niederrhein und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Er studierte Romanistik, Englisch und Philosophie in Freiburg und arbeitete erst mal ein Jahr in Paris, bevor er als Referendar nach Stutensee bei Karlsruhe kam. Beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt erhielt er den Telekom Austria Preis, immerhin mit 10 000 EURO dotiert und so etwas wie der zweite Preis der Veranstaltung: Für seinen Roman „Das Zimmermädchen“, der wie alle seine Bücher in den letzten Jahren beim Frankfurter Schöffling Verlag erschienen ist (Verlag Schöffling & Co., Frankfurt a.M., 138 S., 16,90 €).

Eigentlich stört mich nur, dass heute die meisten Verlage jede längere Erzählung „Roman“ nennen. „Das Zimmermädchen“ ist schon deshalb keiner, weil man nicht erfährt, wo die Hauptfigur herkommt und wo es endet mit ihr. Lynn, 33 Jahre alt, allein lebend, eins fünfundsechzig groß, Haarfarbe braun, Augenfarbe grün, hat ein halbes Jahr in der Psychiatrie verbracht. Warum, dafür gibt es nur Andeutungen: es könnte wegen Kleptomanie gewesen sein, zwanghaftes Stehlen. Auf jeden Fall benimmt sich Lynn zwanghaft, als sie zurück in ihre Wohnung kommt, die ein halbes Jahr leer stand:

Alles ist so, wie sie es sich vorgestellt hat. Aber Lynn zögert nicht. Es wird eine Seite in ihr wach, die sie gut kennt und die sie mag. Lynn ratscht Rollläden hoch, öffnet Fenster, lässt Luft herein und putzt, arbeitet ohne Pause, saugt, wischt, moppt, geht in die Knie, liegt auf dem Boden, steckt Wedel in Ecken, steigt auf Stühle, wischt übers Glas, bringt schaumiges Wasser aus dem Bad ins Wohnzimmer und dreckiges zurück, schleppt Müllsäcke mit toten Pflanzen runter, stopft sie in Tonnen, geht zur Telefonzelle, ruft den Pizzadienst an, vertilgt hungrig die Pizza, lässt sich in den Sessel fallen, zündet Zigarette an, pafft, betrachtet vom Sessel aus ihr Werk.

Sie hat einen Putzfimmel, so viel ist schnell klar. Sie hat eine Mutter, die sie einmal die Woche anruft und mit der sie schon lange nicht mehr richtig reden kann, warum auch immer. Und sie hat Heinz, der offenbar Hotelmanager ist. Jemand, der sie benutzt und den jetzt sie benutzt, denn sie braucht Geld und eine Aufgabe. Ganz sachlich stellt sie fest, heißt es da lakonisch:

Früher oder später wird sie bei Heinz enden, sie wird Heinz aufsuchen müssen, es ist unausweichlich, es lässt sich nicht umgehen, denkt Lynn. Ihr Entschluss steht fest. Sie zerquetscht die Zigarette. Lynn weiß genau, was er will. Sie weiß genau, wie er funktioniert. Springt auf gewisse Sprache an, nur diese paar Worte, die sich mit seiner Phantasie decken. Ist nicht allzu schwer.

Doch meistens ist sie allein: eine eigenwillige junge Frau auf der Suche nach dem, was den anderen scheinbar so gut gelingt und ihr so schwer fällt: das Leben. Ein Glück, dass sie ihren Reinigungszwang professionell ausleben darf. Rasch hat sie einen guten Ruf, kümmert sich buchstäblich um jeden Dreck, bekommt Lob und Trinkgeld. In poetischer Verdichtung schreibt Orths:

Ihr Leben läuft wie am Schnürchen. Lynn steht auf, am Morgen, putzt sich, dann die Hotelzimmer, sie hat den Job bekommen, Heinz hat ihn ihr besorgt, und der Therapeut warf ein Wort in den Raum, das alles enthielt: Konfrontationstherapie. Gutachten, Gespräche, Vertrag, Probezeit, Kündigung schon beim geringsten Vergehen. Vergehen, denkt Lynn. Die Zeit begeht jede Menge Vergehen. Jeder Tag ist ein Vergehen.

Immer länger bleibt Lynn in den Zimmern, und aus vorsichtiger Neugier wird ein immer dreisteres Spiel. Sie stöbert in den Sachen den Gäste, schnuppert an fremden Kleidern und zieht sie auch an. An einem Dienstag kommt ein Gast überraschend zurück. Sie kann nur noch unters Bett flüchten und verbringt die Nacht dort. Von da an tut sie das jeden Dienstag: lauscht auf das, was über ihr geschieht, ist unbekannten Menschen ganz nah und zugleich unendlich fern. Natürlich ist das eine fabelhafte Spielwiese für erotische Phantasien. Und der Autor bedient diese Phantasien nicht nur, er tut dies auf eine unnachahmliche Art auch komisch und damit distanziert. Einmal hat der Mann über Lynn Besuch von einer Prostituierten:

Es geht schnell los. Lynn zittert leicht. Staub wölkt auf. Lynn hält sich die Nase zu, um nicht niesen zu müssen. Man dürfte beim Putzen, denkt sie, auch die Matratzen nicht vernachlässigen. Man müsste, denkt sie, jeden Tag die Matratzen ausklopfen. Mit einem Teppichklopfer. Die Schreie über ihr werden lauter. Lynns linke Hand sucht, tastet, teilt… Finger verschwinden, Lippen werden von Zähnen zum Schweigen gebracht, im Bett ein Toben, auch Lynn stöhnt jetzt, ganz leise.

Als die Frau weg ist und der Mann in der Dusche, schreibt Lynn sich eine Nummer von der Visitenkarte ab, die auf dem Tisch liegt, bevor sie das Zimmer verlässt. Chiara heißt die Frau. Lynn ruft sie an und zahlt – 200 EURO die Stunde, aus der zwei werden, die sie süchtig machen. Natürlich sagt ihr die Frau genau das, was sie hören will, bedient Lynns Phantasien. Ein Zimmermädchen verdient nicht viel, also verkauft Lynn den Laptop, die Anlage, das Auto, um Chiara zu bezahlen. Ihr Leben hat jetzt eine feste Ordnung: Sonntag Arbeit und abends allein, Montag Heinz, Dienstag unterm Bett, Mittwoch frei, Donnerstag Anruf bei Mutter, Freitag Therapeut, Samstag Chiara. Lynn träumt von einem gemeinsamen Urlaub und bleibt gleichgültig, als Heinz ihr den Laufpass gibt. Markus Orths deutet die Katastrophe, die sich anbahnt, nur an, eher beiläufig:

„Da ist was passiert“, sagt Lynn. „Mit mir. Ich hätte nie gedacht, ich meine, wenn du hier bist, dann … Nimm mich in den Arm.“ „Hör zu, ich muss los.“ „Bleib noch länger“. „Ich hab ein Date.“ „Lass es sausen.“ Chiara ist schon angezogen, sie seufzt, schaut auf die Uhr. „Beeil dich“, sagt sie.

Natürlich kommt Chiara nicht mit. Am Ende unterwirft Lynn die Mutter ihrer Obsession. Sie macht einen Besuch, isst Plätzchen, bezieht ihr Kinderzimmer und schleicht unters Bett der alten Frau, die noch vor dem Fernseher sitzt. Konfrontationstherapie? Eine sehr eigene Form von Leben und Nähe? Offene Fragen. Dieses Buch über Einsamkeit, Täuschung, Selbsttäuschung und Enttäuschung ist großartig beobachtet und schön geschrieben: In einer Sprache, die sehr genau dem Leben abgehorcht ist. Spannend, einfühlsam, manchmal witzig oder saftig-erotisch, öfter traurig, atemlos und doch nachdenklich.